Roger Ross Williams: «Jemand wie ich bleibt in Hollywood lange unsichtbar»
Roger Ross Williams gewann als erster Schwarzer Regisseur einen Oscar. Doch viele Türen öffneten sich für ihn erst im Zuge von Black Lives Matter.
«Es war verrückt: Plötzlich suchten alle Anbieter händeringend nach Schwarzen Inhalten. Sie konnten gar nicht schnell genug Aufträge an People of Color vergeben und Diversitätsbeauftragte einstellen.» Roger Ross Williams muss fast ein wenig lachen, wenn er sich erinnert, wie Hollywood reagierte, als im Sommer 2020, nach der Ermordung George Floyds durch einen weissen Polizisten, die Black-Lives-Matter-Bewegung das Land erfasste. Für eine Weile habe es damals wirklich so ausgesehen, als würden die USA endlich mit dem Rassismus abrechnen: «Selbst in meiner praktisch rein weissen Nachbarschaft im Städtchen Roxbury im Bundesstaat New York gab es Proteste.»
Inzwischen hat sich auch bei Williams längst Ernüchterung eingestellt, wie er beim Gespräch am Dokumentarfilmfestival in Amsterdam gesteht, unweit der Wohnung, die er mit seinem holländischen Ehemann in der Stadt teilt. Das Erwachen sei ziemlich kurzlebig gewesen, sagt der Schwarze Filmemacher. «Jetzt kommen alle die damals bestellten Produktionen heraus, aber die Aufmerksamkeit ist weitgehend verschwunden. Und nicht wenige der Diversitätsbeauftragten wurden schon wieder entlassen.»
Auch Williams’ aktueller Film, die Dokumentation «Stamped from the Beginning» nach dem gleichnamigen Buch von Ibram X. Kendi, ist letztlich ein Ergebnis von Black Lives Matter. Kendi war damals in aller Munde mit seinem Bestseller «How to Be an Antiracist» (2019). Aber für Williams war vor allem dessen erstes Buch eine Offenbarung gewesen, auf Deutsch unter dem Titel «Gebrandmarkt» erschienen: «Vorher hatte ich nie wirklich realisiert, wie sehr sogar ich als Schwarzer Mann rassistische Ideen verinnerlicht hatte. Das Buch hat mir die Augen geöffnet dafür, wie sich diese Strukturen über Jahrhunderte etabliert haben und wie tief sie verwurzelt sind, nicht zuletzt durch Darstellungen in der Popkultur.»
Eklat bei den Oscars
Im Film kommen neben Kendi selbst ausschliesslich weibliche Stimmen zu Wort. In einer reizvollen Mischung aus Talking Heads, Archiv- und Nachrichtenmaterial sowie Animationssequenzen zeichnet «Stamped from the Beginning» nach, wie der Rassismus gegen Schwarze Menschen seit den Anfängen des Sklav:innenhandels in Portugal zu einem prägenden Element der USA werden konnte. Der Stoff hätte problemlos einen Sechsteiler hergegeben, doch Williams entschied sich dagegen, weil er es dem Publikum so leicht wie möglich machen wollte, sich auf das Thema einzulassen. Und es sei ihm tatsächlich auch wichtig gewesen, mit dem Film bei Netflix zu landen: «Kendis Werke gehören dieser Tage in etlichen Bundesstaaten zu den meistverbotenen Büchern an Schulen und Bibliotheken. Aber den grössten Streamingdienst der Welt kann niemand verbieten.»
Mit «Stamped from the Beginning» darf er sich am 23. Januar durchaus Chancen auf eine weitere Oscar-Nominierung ausrechnen – in seiner Karriere würde sich damit ein Kreis schliessen. 2010, mit 48 Jahren, war er der erste Schwarze Regisseur überhaupt, der einen Oscar gewann, für den dokumentarischen Kurzfilm «Music by Prudence». Dieser historische Moment ist allerdings weniger in Erinnerung geblieben als die weisse Produzentin, mit der sich Williams und seine Mitstreiter ein Jahr davor überworfen hatten. Bei den Academy Awards kaperte sie dann die Bühne und schnitt dem Regisseur das Wort ab, als dieser gerade erst zu seiner Dankesrede angesetzt hatte.
Discoqueen und schwuler Wrestler
Vom grossen Durchbruch konnte danach nicht die Rede sein. «Nach dem Oscar blieben die meisten Türen verschlossen», sagt Williams. Er habe noch lange bei einem Freund auf der Couch gewohnt, um über die Runden zu kommen, erinnert er sich. «Jemand wie ich bleibt in Hollywood ziemlich lange unsichtbar – auch heute noch, und selbst wenn man dann tatsächlich Projekte umsetzen darf.»
Inzwischen sorgt Williams selber für Abhilfe, seit er gemeinsam mit jenem Freund, dessen Sofa ihm vor Jahren als Schlafplatz diente, die Produktionsfirma One Story Up gegründet hat. Diese beschäftigt inzwischen rund achtzig Mitarbeiter:innen, und letztes Jahr produzierte Williams dort einen Dokumentarfilm über die Discoqueen Donna Summer («Love to Love You») und eine Serie über Schwarzes Leben in den USA («The 1619 Project») – bei beiden war er jeweils auch für die Regie verantwortlich. Ebenfalls 2023 kam seine dokumentarische Miniserie «The Supermodels» heraus, dazu sein erster Spielfilm als Regisseur: «Cassandro», ein Biopic über einen schwulen Wrestler mit Gael García Bernal in der Hauptrolle. Verpackt als Feelgood-Erfolgsstory, entpuppt sich «Cassandro» als feinsinnige Ermächtigungsgeschichte, die so manches Männlichkeitsstereotyp hinterfragt.
Er erzähle am liebsten Geschichten über Menschen, die gegen Widerstände zu kämpfen hätten, sagt Williams – «ganz gleich, in welchem Genre, Format oder Medium». Menschen wie er selbst also. Früher habe er oft unfreiwillige Auszeiten genommen, weil er auf Jobangebote habe warten müssen. Heute komme er kaum mehr dazu, mal Pause zu machen: «Aber ich beklage mich nicht. Mein Kampf geht weiter, nur in einer grösseren Arena.»
«Stamped from the Beginning» läuft bei Netflix, «Cassandro» bei Amazon Prime. «The Supermodels» bei Apple TV, «Love to Love You» bei Sky, «The 1619 Project» bei Disney plus.