Baukunst: «Architektur kann eine heilende Wirkung haben»
Die indische Architektin Anupama Kundoo will Menschen über das Bauen ihre Würde zurückgeben. Deshalb kämpft sie gegen Standardisierung und Entmenschlichung in der Architektur und im Städtebau.

WOZ: Anupama Kundoo, wir leben in einer Welt der multiplen Krisen. Millionen Menschen weltweit leben auf der Flucht, vertrieben durch Konflikte oder durch die Klimaerhitzung. Allein in Indien, wo Sie herkommen, wurden letztes Jahr 2,5 Millionen Menschen durch Naturkatastrophen vertrieben. Welche Aufgabe hat Architektur in einer solchen Welt?
Anupama Kundoo: Empathie ist für mich der wichtigste Motor einer humanistischen Architektur. Die Empathie macht den Unterschied zwischen einem Haus und einem Zuhause. Räume wirken auf Menschen ein, und Architektur ist viel mehr als nur die Suche nach der Form eines Gebäudes. Architektur ist eine Art Erweiterung unseres Körpers. Sie muss ästhetischen, räumlichen und psychologischen Bedürfnissen entsprechen. Räume können uns krank machen, zum Beispiel, wenn sie keine Fenster haben, damit ich genügend Luft und Licht habe und erkenne, ob Tag oder Nacht ist. Aber genauso kann Architektur eine heilende Wirkung haben – besonders in Krisenzeiten. Sie kann einen schützenden Rahmen bieten, in dem zum Beispiel Traumata besser bewältigt werden.
Sie gelten als eine der wichtigsten Exponentinnen einer menschzentrierten Architektur. Welche Ziele verbinden Sie damit?
Ich möchte, dass mit meiner Architektur die menschliche Fürsorge und der menschliche Einfallsreichtum gefördert werden. Zudem glaube ich an das Denken mit den Händen, so wie es in Montessori-Schulen gelehrt wird. Die Idee der Moderne, dass menschliche Zeit viel zu teuer ist und durch Automatisierung und Standardisierung ersetzt werden sollte, ist ein grosser Trugschluss. Wir brauchen durch Erfahrung verkörperlichtes Wissen und sollten dieses in der Architektur nutzen.
Anupama Kundoo
Die 56-Jährige wurde in Pune geboren und studierte Architektur in Mumbai. 2008 promovierte sie an der Technischen Universität in Berlin mit einer Arbeit über den US-amerikanischen Keramiker Ray Meeker. Anupama Kundoo lebt in Berlin und lehrt seit 2018 als Professorin an der Fachhochschule in Potsdam.

Wie sieht eine solche Architektur konkret aus?
Sie muss orts- und kontextspezifisch sein; sie muss klimatischen und kulturellen Gegebenheiten entsprechen. Und sie muss ein «Habitat» schaffen, was immer eine Gemeinschaft einschliesst, denn wir brauchen andere zum Überleben. Eine menschzentrierte Architektur muss diese Gemeinschaft fördern. Dafür braucht es private Räume, die eine gewisse Intimität schaffen, aber auch öffentliche Räume, in denen sich Menschen begegnen können. Der grösste Gegner einer solchen Architektur sind Massenproduktion und Überstandardisierung. In standardisierten Räumen fühlt man sich, als gehöre man dort nicht hin.
Steht dies in direktem Zusammenhang mit Ihrer Kritik, dass westliche Städte den Individualismus fördern und zur Vereinsamung der Menschen beitragen?
Ja. Und im Zentrum dieser Entwicklung stehen für mich das Auto und die Kultur, die sich darum entwickelt hat. Strassen waren ursprünglich Räume für Begegnung. Durch das Aufkommen von Autos wurden sie zu Grenzen, die Bewohner:innen voneinander trennen, statt sie zu verbinden. Kinder können nicht mehr dort spielen, und die Eltern begegnen sich nicht mehr. Die Nachbarschaft wird plötzlich zur Gefahrenzone. In Indien können sich nur wenige Menschen Autos leisten, die meisten sind zu Fuss unterwegs. Trotzdem werden auch unsere Städte zunehmend aufs Auto ausgerichtet. Das ist hochproblematisch. In Indien lebt heute ein Sechstel der Weltbevölkerung auf 2,4 Prozent der global verfügbaren Landfläche. Wir können uns den Individualismus des Westens nicht leisten, wo jeder und jede ein eigenes Auto hat und für sich allein lebt. Ganz abgesehen davon, dass die Individualisierung uns auch entmenschlicht.
Schwingt hier auch eine postkoloniale Kritik mit? Ist das eine Art von Urbanisierung und Architektur, die von industrialisierten Staaten des Nordens in den Süden exportiert wurde?
Absolut, denn Europa ist ja sehr darauf aus, seine eigenen Probleme in die Staaten des Südens zu exportieren, und dies stets mit einer paternalistischen und herablassenden Haltung, geprägt von Schuld und Mitleid. Leider schauen wir oft noch immer ehrfürchtig darauf, was in den sogenannten Industrieländern normalisiert wurde: Ein Industrieland zu sein, bedeutet ja in erster Linie, dass jeder Mensch möglichst viele Ressourcen nutzen kann. Und dieser Ressourcenanspruch ist gekoppelt an die Idee, dass der Verbrauch automatisch zu mehr Wohlstand beiträgt. Selbst wenn dieser enorme Konsum die Menschen nicht glücklich macht, sie einsam in ihren teuren Häusern sitzen und krank werden.
Sie haben lange in Auroville gelebt und gearbeitet, einer Planstadt im indischen Bundesstaat Tamil Nadu, die sich an den Ideen des Philosophen, Yogis und Freiheitskämpfers Sri Aurobindo orientiert. Dort haben Sie mit Lehm, Terrakotta und Keramik experimentiert und dafür eng mit Handwerkern vor Ort zusammengearbeitet. Welches Potenzial erkennen Sie in solchen Materialien?
Als ich mit 23 Jahren in Auroville mein erstes Architekturbüro eröffnete, war ich noch immer stark geprägt von meiner nachkolonialen Ausbildung. Wir lernten, dass Ton oder Terrakotta, die früher in Indien im Bau sehr verbreitet waren, rückständige Materialien seien. Erst als ich begann, mich stärker mit Materialien auseinanderzusetzen, und damit in Auroville experimentierte, merkte ich: Die lokal verfügbaren Materialien, darunter Lehm, eignen sich hervorragend zum Bauen.
Sie haben in Pondicherry für obdachlose Kinder Kuppeln aus Lehm gebaut und jeweils drei dieser Kuppeln so untereinander verbunden, dass sie Platz für fünfzehn Kinder und fünf Betreuerinnen bieten. Was war die Idee hinter diesem Design?
Wir haben diese Kuppeln aus Lehmziegeln gebaut, die wir gleich an Ort und Stelle brannten. Durch den Brennprozess, der drei bis vier Tage dauert, wurden sie widerstandsfähig und wasserdicht. Diese Brennhüttentechnik ist jahrtausendealt, viele Menschen vor Ort kennen sie und wenden sie selbst an. Da es sich um ein soziales Projekt handelte, mussten die Kosten sehr tief sein. Wir haben keinen Zement eingesetzt und dafür viel mit Recyclingmaterialien wie Fahrradrädern und Glasscherben gearbeitet. Es sind Ideen, die von lokalen Gemeinden aufgenommen und weitergeführt werden können. Dafür brauchen sie keine akademisch ausgebildete Architektin.
Könnte eine solche Architektur auch in einem städtischen Massstab funktionieren? Gerade indische Städte sind ja enorm unter Druck, weil täglich Tausende Menschen vom Land in die Stadt migrieren.
Verstehen Sie mich nicht falsch, es geht mir nicht um Nostalgie und die Erhaltung von altem Handwerk auf dem Land. Mir geht es vielmehr darum, ortsgebundenes Wissen, das über Jahrhunderte gewachsen ist, für aktuelle Herausforderungen weiterzuentwickeln, auch in der Stadt. Solches Wissen können wir weltweit für nachhaltige kontextspezifische Lösungen nutzen. Mein «Wall House» in Auroville zum Beispiel habe ich gemeinsam mit ungelernten Arbeitern gebaut. Das Dach besteht aus Terrakottakegeln, die in dieser Gegend eine lange Tradition haben. Dadurch konnten wir viel Stahl und Beton einsparen und Abfälle verhindern. Das Gesamtprojekt ist sowohl sozial als auch ökologisch nachhaltig. Und das Ergebnis überzeugt ästhetisch. Ich wurde damit 2012 an die Architekturbiennale in Venedig eingeladen, um vor Ort mit Handwerkern eine Replika des Hauses zu bauen.
Fünf Jahre später zeigten Sie an der Architekturbiennale in Venedig das Projekt «Full Fill Home». Damit versuchten Sie, eine architektonische Antwort auf die hohe Obdachlosigkeit in Indien zu finden. Wie sieht diese aus?
Dank speziell entworfener Module aus vorgefertigten Hohlblocksteinen aus Faserzement können die «Full Fill Homes» innerhalb von sechs Tagen zusammengebaut werden, einschliesslich des Fundaments. Damit eignen sie sich auch zur Krisenintervention, wenn für Vertriebene von Naturkatastrophen schnell ein neues Zuhause gebaut werden muss. Die Blöcke sind so konzipiert, dass sie als Stau-, Sitz- oder Liegeraum genutzt werden können, sodass der Innenraum nicht möbliert werden muss und für individuelle Nutzungen frei bleibt. Der eingesetzte Faserzement ist nur 25 Millimeter dick und wird mit einem Hühnerdrahtzaun und dünnen Stahlrohren bewehrt. Dadurch können wir den Einsatz von Stahl und Zement deutlich reduzieren. Zudem haben wir die Blöcke nicht in grossen Fabriken, sondern in Hinterhöfen von Maurern herstellen lassen, um diesen ein zusätzliches Einkommen zu verschaffen. Das «Full Fill Home», das wir 2017 für die Architekturbiennale gebaut hatten, wurde danach nicht zerstört, sondern im Stadtteil Marghera für die Unterbringung von Obdachlosen wieder aufgebaut.
Sie setzen sich seit Jahren für ressourcenschonendes Bauen mit alternativen Materialien ein. Gleichzeitig sitzen Sie in der Jury der Holcim Foundation, der Stiftung eines der weltgrössten Zementhersteller. Wie passt das zusammen?
Die Stiftung setzt sich weltweit für Forschung im nachhaltigen Bauen ein. Ich bin froh, dass andere Menschen Pionierarbeit leisten und andere Dinge erforschen als ich. Und ich denke, dass es mir als Architektin auch freisteht, sämtliche Materialien zu nutzen. Ich habe in Pondicherry im Jahr 2000 selbst einen Tsunami erlebt und weiss um die Vorteile von Zement, wenn es darauf ankommt. Ich verurteile deshalb niemanden, weil er oder sie Zement einsetzt. Naturmaterialien und lokales Handwerk allein werden den enormen Herausforderungen der Urbanisierung nicht gerecht. Wir müssen in den Städten vertikal bauen und verdichten, um das Bevölkerungswachstum abzufangen. Es braucht deshalb unterschiedliche Ansätze. Und das Bauen mit Zement gehört dazu. Aber solche hochenergetischen Materialien müssen unbedingt optimiert werden, und dafür ist weitere Forschung nötig.