«Navire Avenir»: Refugium für Geflüchtete auf See
Eine humanitäre Fiktion, die dank kleinen Gesten real werden könnte: Ein riesiger Katamaran soll zur Rettungsoase für Migrant:innen in Seenot werden.
Kunstwerke, die den desolaten Zustand der Welt beklagen, gibt es zuhauf. Warum nicht ein Werk schaffen, das, statt passiv zu weinen, aktiv wirkt? Dies ist die Grundidee hinter dem geplanten Bau der «Navire Avenir», des ersten Seenotrettungsschiffs, das für die Bergung in Not geratener Migrant:innen im Mittelmeer konzipiert wurde.
Die Idee geht auf den Schriftsteller, Filmemacher und Politologen Sébastien Thiéry zurück, der im Winter 2019/20 einen Antrag bei der Unesco koordinierte: Der Akt der Gastfreundschaft sollte als immaterielles Kulturerbe der Menschheit anerkannt werden. Dabei stiess er auf den praktischen Erfahrungsschatz von Seenotretter:innen. Als er 2020 auf Einladung des Centre Pompidou Metz ein Werk zu dessen zehntem Geburtstag schaffen sollte, schlug Thiéry einen externen «Erweiterungsbau» in Form eines Seenotrettungsschiffs vor.
In den Folgejahren arbeitete ein Kollektiv das Vorhaben bis ins Detail aus, und Mitte Oktober 2023 wurde das Projekt nun in Paris lanciert: Auf dem Vorplatz des dortigen Centre Pompidou steckte ein mit Kreide auf den Boden gezeichneter Grundplan den Raum ab für allmorgendliche «imaginäre Führungen» in Begleitung von Vertreter:innen des Trägervereins. Dieser versammelt heute Migrant:innen, die einen Schiffbruch überlebt haben, Seenotretter, Architektinnen, Ingenieure, Designerinnen, Pfleger, Juristinnen, Köche, Forscherinnen und Student:innen aus ganz Europa.
Die Dimensionen des geplanten Schiffs sind gewaltig: 69 Meter Länge, 22,5 Meter Breite. Es sei für Extremfälle konzipiert, in denen es Hunderte von Schiffbrüchigen zu retten gelte, sagt Thiéry. Seine Grösse antizipiere zugleich die Verschärfung der Notlage in einer nahen Zukunft, in der die Zahl der Fluchten über das Mittelmeer aufgrund der Klimakatastrophe und ihrer Folgen exponentiell ansteigen werde.
Weit weg von den Wogen
Zentral für die Konzeption des Schiffes war auch der Input von geretteten schiffbrüchigen Migrant:innen. Gerettete leiden oft an Seekrankheit – die Form des Katamarans wurde gewählt, weil dieser Schiffstyp wenig schaukelt. Ausserdem setzen die beiden feinen Stahlrümpfe dem Vortrieb wenig Widerstand entgegen, der Elektromotor verbraucht also wenig Strom. Dieser wird durch eine 371 Quadratmeter grosse Fotovoltaikanlage erzeugt. Hinzu kommen zwei starre Segel, die wie vertikale Flugzeugflügel gen Himmel ragen und sich automatisch je nach Windrichtung und -stärke ausrichten. Auch in Sachen Wasser- und Abfallmanagement setzt das Schiff auf Nachhaltigkeit.
Die Sucharbeit soll ein tief fliegendes Flugzeug leisten, das mit einer Verbindungsperson auf der «Navire Avenir» (und nicht, wie heute üblich, an Land) in Kontakt steht. Gerettet werden sollen Schiffbrüchige durch vier mitgeführte kleine Tochterboote. Über eine «Nachenbrücke», wo Verwundete verarztet und, so nötig, hospitalisiert werden, gelangen die Migrant:innen zu einem 500 Quadratmeter grossen Refugium über der Hauptbrücke, weit weg von den Wogen. Hier gibt es sanitäre Anlagen und 372 Schlafplätze, versehen mit Decken und Schmusetieren für Kinder. Auch an Teppiche am Boden wurde gedacht, an eine vielsprachige Beschilderung und an vegetarische Mahlzeiten auf der Hauptbrücke, von der aus überall der Horizont zu sehen ist. Und auch posttraumatische Betreuung soll an Bord geleistet werden: für Frauen, die im Lauf ihrer Odyssee vergewaltigt wurden, oder für die Hinterbliebenen von Ertrunkenen.
Für ein Europa der Gerechten
Die Vereinigung Navire Avenir regt zudem die Schaffung einer europäischen Seeflagge an – Deutschland und die Niederlande sind heute die einzigen EU-Staaten, die den Rettungsschiffen von Hilfsorganisationen eine eigene Flagge gewähren. Das Netzwerk SOS Méditerranée, an der Konzeption der «Navire Avenir» beteiligt und auch im Verwaltungsrat des Trägervereins vertreten, soll sein Rettungsschiff Ocean Viking im Jahr 2025 durch den neuen Katamaran ersetzen.
Dies, sofern via Crowdfunding hinreichend Startkapital generiert werden kann und den «kleinen» Spender:innen auch ausreichend private Mäzen:innen sowie öffentlich-rechtliche Geldgeber zur Seite stehen. Die Kosten für das Schiff werden auf 27 Millionen Euro veranschlagt, und bis Ende 2023 hätten 6 Millionen Euro zusammenkommen sollen, um mit dem Bau beginnen zu können. Davon ist man zwar bei aktuell etwas über einer Million Euro noch weit entfernt, doch Thiéry betont, das Projekt werde unter keinen Umständen aufgegeben. «Wenn wir uns anstrengen, können wir es immer noch schaffen, bis Ende 2025 fertig zu werden – und wenn nicht, werden wir später einweihen.»
Das wichtigste Plädoyer gegen Untätigkeit aus Zweifel und Verzagtheit formulierte der Schriftsteller Camille de Toledo bereits anlässlich der offiziellen Lancierung von «Navire Avenir» im Centre Pompidou: Dem Europa der für den Schutz des Schengen-Raums zuständigen Grenz- und Küstenwache Frontex gelte es ein Europa der Gerechten entgegenzustellen. «Jeder an seinem Ort kann mit kleinen Gesten Fiktionen ins Leben rufen: Mit viel Sturheit und Beharren werden diese am Ende real. Aus der Zukunft betrachtet, sind es diese Gesten, die die Jetztzeit dereinst retten werden.»