Kino: Das Bewusstsein zum Tanzen aufgefordert

Nr. 2 –

Die Filme von Peter Mettler führen oft dorthin, wo man sonst nur nach jahrelanger Meditationspraxis hinkommt. In «While the Green Grass Grows» ist das jetzt die Zone zwischen Leben und Tod.

Filmstill aus «While the Green Grass Grows»: Bäume welche mit Moos bewachsen sind
Für Bild und Bewusstsein gilt: Interessant wird es, wenn Bewegung ins Spiel kommt – auch wenn Peter Mettler einen Wald beim blossen Existieren zeigt. Still: Louise va au cinéma

Wie ein Fluss, der naturgemäss immer dem Weg des geringsten Widerstands entlangfliesse, sei er vorgegangen, sagt Peter Mettler früh in «While the Green Grass Grows». Sich von einem Ding zum nächsten führen lassen. So ist die zweite Begegnung in diesem hauptsächlich auf Begegnungen aufgebauten Film jene mit seinem Appenzeller Nachbarn, dem Tätowierer Gass Rupp. In der Beschreibung des Zugangs zu seinem Handwerk formuliert er jenen von Mettlers Kino gleich mit: All diese Dinge, diese Motive, seien schon da, seine Aufgabe sei einzig, sie hervorzuholen, sichtbar zu machen. Dann führt er Mettler, der das mit einem Abstieg ins Unterbewusste vergleicht, in die Tiefen eines stillgelegten Eisenbergwerks und sprüht mit weisser Farbe eine Unendlichkeitsspirale an die Stollenmauer. Hilfreich, um den Weg zurück zu finden, meint der Filmemacher, während der Tätowierer träumerisch feststellt, dass die Realität nicht immer real aussehe.

Es ist dieses forschende Assoziieren, mit dem Peter Mettler in Filmen wie «Gambling, Gods and LSD» oder «Becoming Animal» schon immer zu Orten und Zuständen zu führen vermochte, die sonst oft nur mit jahrelanger Achtsamkeits- oder Meditationspraxis zu erreichen sind (oder, für die Ungeduldigen, mit Psychedelika). Die Redewendung vom Gras, das auf der anderen Seite grüner sein soll, an die der Titel angelehnt ist, stand denn auch am Ursprung seines jüngsten Vorhabens, wobei ihm insbesondere die unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten dieser «anderen Seite» gefielen.

Über die Sinne hinaus

«While the Green Grass Grows» ist auf insgesamt sieben Teile angelegt, und was von diesem filmischen Tagebuch jetzt ins Kino kommt, sind die Teile eins und sechs. Diese bilden ein beinahe dreistündiges Kinoerlebnis, das grossteils um die Sterblichkeit kreist und um die Frage, was uns «auf der anderen Seite» erwartet (und ob es da eventuell «grüner» sein könnte). Doch nichts daran ist deprimierend, und das irdische Diesseits, das dem Kanadaschweizer Mettler dabei vor die Kamera kommt, ist – metaphorisch gesprochen – das grünste Gras, das man seit einiger Zeit im Kino erleben konnte.

Die Mittel des Mediums Film sind ja begrenzt. Da gibt es ein (streng begrenztes) Bild, das sich in unterschiedlichen Geschwindigkeiten bewegen kann, und es gibt den Ton. Alles, was ein Film an intellektueller und sinnlicher Wirkung erreichen will, muss ihm auf dem Weg durch Augen und Ohren gelingen. Gewissen Filmemacher:innen – und Mettler gehört da ganz entschieden dazu – gelingt es trotzdem immer wieder, filmische Erlebnisse zu schaffen, die über diese beiden Sinne hinausgehen, auch wenn sich dieser Effekt kaum objektiv beschreiben lässt. Ob bewusst oder instinktiv – Mettler nähert sich in seiner Herangehensweise immer wieder den Techniken einer geführten Meditation an, sowohl, was den Bildinhalt und das Verhältnis zwischen Bild und Ton angeht, als auch, was den audiovisuellen Gesamtrhythmus betrifft, der gleichsam der Atmung nachempfunden scheint. Minutenlang blicken wir da etwa Flüssen und Wäldern beim fliessend-schwebenden Existieren zu, während von irgendwo aus dem Untergrund die sich repetitiv steigernden Klänge von Ravels «Boléro» zu uns dringen.

Stillstand gibt es nicht

Die Analogie des Dalai Lama, den Mettler im Film einmal zitiert, wonach sich das Verhältnis zwischen Materie und Bewusstsein wie jenes zwischen dem Zelluloidstreifen und dem darauf festgehaltenen Bild gestaltet, erscheint nach der Erfahrung von «While the Green Grass Grows» jedenfalls nachvollziehbar. Und wie beim Bild auf dem Filmstreifen wird es ja auch beim Bewusstsein genau da interessant, wo Bewegung ins Spiel kommt. Nicht dass es in der Natur so etwas wie Stillstand gäbe, schon gar nicht im Tod. Mettler dokumentiert den Prozess des Sterbens, die langsame Bewegung zur anderen Seite hin, nicht als Zerfall des Körpers, sondern entsprechend einem weiteren Dalai-Lama-Zitat als ein Zu-sich-Kommen des Bewusstseins. Dieses ist hier auch nicht zwingend an eine Person gebunden, sondern gleicht eher einem Fluss, der sich an verschiedenen Stationen betrachten, betreten oder gar überqueren lässt.

Auf einer gemeinsamen Wanderung durch die Appenzeller Berge betrachtet Mettlers betagter Vater Freddy einen Baum, dessen Seitenast grösser geworden ist als der Stamm. Er interpretiert dies als Sinnbild für die Natur, in der sich das zuvor Kommende immer zugunsten des danach Kommenden opfert, oder anders formuliert: «Nature is crazy.» Von einer Brücke über einen Rheinzufluss streuen sie, nicht ohne kurz von einer gestressten Wanderin unterbrochen zu werden, die Asche der kürzlich verstorbenen Mutter Julia ins Wasser. Da fliesse sie jetzt über Basel bis in die Nordsee, steige in die Luft hoch und regne dann auf der anderen Seite, in ihrer Wahlheimat Kanada, wieder «auf uns» herunter. Der Kreis schliesst sich, formt eine Bühne, und auf dieser sollte, entsprechend Julias letztem Wunsch, getanzt werden.

«While the Green Grass Grows». Regie: Peter Mettler. Schweiz/Kanada 2023. Jetzt im Kino. Vorstellungen in Anwesenheit des Regisseurs ab 11. Januar 2024: www.louisevaaucinema.ch.