Heinrich Walther: Heiliger Egoismus
Synergien im rechtskatholischen Milieu der Schweiz: Patrick Pfenniger liefert eine aufschlussreiche historische Studie zu Heinrich Walther (1862–1954), einem zentralen Politiker der mörderischen «Überfremdungs»-Doktrin im Zweiten Weltkrieg.
Der gewichtigste Verteidiger der bundesrätlichen Das-Boot-ist-voll-Politik, die Tausende von Jüdinnen und Juden das Leben kostete, war der Rechtskonservative Heinrich Walther. Der ehemalige Luzerner Regierungsrat hatte 1919 bis 1940 im Bundeshaus die katholisch-konservative Fraktion präsidiert. Man nannte ihn «Königsmacher», weil er die Wahl der meisten Bundesräte eingefädelt hatte. Seine allerletzte Rede, die er als Nationalrat im Rahmen der Flüchtlingsdebatte am 23. September 1942 hielt, wurde seine berühmteste.
Mit dem Begriff «Sacro Egoismo», damals übersetzt als «heilige Selbstsucht», brachte er die rechtsbürgerliche «Staatsräson» auf den Punkt. Deren Hauptanliegen war es, «eine Überflutung des ausländischen Elements in der Schweiz zu verhindern». Damit waren Jüdinnen und Juden gemeint. Der Einfluss Walthers ging über seine Rede hinaus. Der erfahrene und bestens vernetzte Nationalrat war die stärkste politische Stütze des Fremdenpolizeichefs Heinrich Rothmund.
Annäherung an Hitler
Laut Patrick Pfenniger, Autor einer Dissertation über «Heinrich Walther und das nationalsozialistische Deutschland», gehörte Rothmund demselben «Denkkollektiv» an wie Walther. Das Konzept einer Gemeinschaft von Menschen, die in «gedanklicher Wechselwirkung» stehen, hat Pfenniger vom polnischen Wissenschaftssoziologen Ludwik Fleck (1896–1961) übernommen. Dessen «Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv» hilft tatsächlich, die «1918er Rechten», deren «Schlüsselerfahrung» der Landesstreik ist, wie auch ihren «Bürgerblock», der die Schweiz während Jahrzehnten prägte, zu verstehen. Insbesondere erklärt sie die Synergie des rechtskatholischen Milieus, dem Walther und dessen «Ziehsohn» Philipp Etter entstammen, mit rechtsfreisinnigen Politikern, Militärs wie Eugen Bircher und Ulrich Wille junior, Beamten wie dem Diplomaten Hans Frölicher oder eben Rothmund.
Zum gemeinsamen «Denkstil» gehörten der «Antibolschewismus», der die Sozialdemokratie mitmeinte, der Antisemitismus, der sich hinter der Warnung vor «Überfremdung» versteckte, ein autoritärer Antiliberalismus, der gegenüber klassischen Freisinnigen misstrauisch war, und eine Germanophilie, die bei Walther, einem Sohn deutscher Einwanderer, besonders ausgeprägt war. Der «Hyper-Nationalismus» des «Sacro Egoismo» meinte laut Pfenniger eine «von rechtskonservativen Männern dominierte» Schweiz, «in der der politische Katholizismus eine bedeutende Rolle spielte».
Aber Walther meinte nicht eine Schweiz, die gegenüber Nazideutschland ihre freiheitlich-demokratischen Werte, beispielsweise die Pressefreiheit, und ihre Eigenständigkeit wie die Neutralität betonte. So warb er am 21. März 1941 in einem zweiteiligen Artikel im Parteiorgan «Vaterland» unter dem Titel «Sacro Egoismo» für eine wirtschaftliche wie auch ideelle «Annäherung an das Dritte Reich». Sein bisheriges Anliegen, der Anschluss an eine «europäische Wirtschaftsgemeinschaft», erweiterte er um die Idee, dass sich die Schweiz «in das neue Europa einzufügen» habe. Als Beispiel, wie ernst es Walther meinte, bringt Pfenniger dessen Votum an einer SBB-Verwaltungsratssitzung «für ein grösstmögliches Entgegenkommen zugunsten der ‹Deutschen Reichsbahn›» Ende Mai 1941. Drei Wochen später überfielen Hitlers Armeen die Sowjetunion.
Walther stellte darauf im «Vaterland», in dessen Verwaltungsrat er sass, die rhetorische Frage: «Die Stunde der Abrechnung mit dem Bolschewismus?» Laut Pfenniger sympathisierte Walther mit Hitlers «Operation Barbarossa» auch aus innenpolitischen Gründen: «Für Heinrich Walther kämpften die Landser in den Weiten Osteuropas nicht nur für einen Sieg Deutschlands, sondern auch für ihn und seine antibolschewistischen Gesinnungsgenossen in der Schweiz.» Das Luzerner SP-Organ «Freie Innerschweiz» konterte mit der ebenfalls rhetorischen Frage: «Herr H. W. zum Kreuzzug bereit?!»
Unheimliche Kohärenz
Die Einseitigkeit zugunsten Deutschlands hatte sich bereits beim von Walther angeregten Empfang von Fröntlern durch Bundesrat Marcel Pilet-Golaz im September 1940 gezeigt. Sie bestätigte sich in der Unterstützung der von seinem Denkkollektiv geförderten Ärztemission an der Ostfront, in seinem Einsatz für germanophile Offiziere, die General Henri Guisan degradieren wollte. Und sie zeigte sich nach dem Krieg in der einseitigen Empathie für deutsche Kriegsopfer, in der Kritik am Nürnberger Tribunal mit antisemitischen Anspielungen oder in der Ablehnung einer Veröffentlichung der Namen der «Eingabe der 200», die Ende 1940 vom Bundesrat die «Ausmerzung» der nazikritischen Medien verlangt hatte.
Spätestens seit Kriegsbeginn hatte Walthers Haltung zum Nationalsozialismus eine unheimliche Kohärenz. Deshalb irritieren in Pfennigers Werk Aussagen wie: «Durch eine ‹Anpassung› in der Wirtschaft wollte er eine ‹Anpassung› in der Politik umgehen.» Eine solche Trennung ist nicht nur schwer vorstellbar, sie wird im Buch an anderen Stellen auch widerlegt. Vor allem widerspricht sie dem Projekt einer illiberalen Demokratie, die das ganze Denkkollektiv vertrat. In Pfennigers Innovation, dem Einbezug von Flecks Theorie, steckt noch mehr kritisches Potenzial, als sie im lesenswerten Buch zum Ausdruck kommt.