Israel / Palästina: «Zwei Staaten sind möglich»

Nr. 5 –

Die Bombardierung des Gazastreifens hält an, gleichzeitig steigt der Druck für eine politische Lösung des Nahostkonflikts. Wie realistisch sind die Forderungen nach einer Zweistaatenlösung? Konfliktforscher Andreas Wimmer sagt: «Es gibt Chancen.»

Palästinenser und israelische Soldaten 2020 im Westjordanland
«Eine Konfliktspirale aus Gewalt, Gegengewalt, mehr Besetzung, weniger Autonomie, mehr Gewalt»: Palästinenser und israelische Soldaten 2020 im Westjordanland. Foto: Francisco Proner, Laif

WOZ: Andreas Wimmer, in der NZZ habe ich kürzlich den Satz gelesen: Wer einen Staat für die Palästinenser fordere, «ist auf der richtigen Seite der Moral, aber auf der falschen Seite der Realität». Wie sehen Sie das?

Andreas Wimmer: Es kommt immer drauf an, ob man eine kurzfristige oder eine etwas längerfristige Perspektive einnimmt. In den nächsten paar Monaten ist eine Zweistaatenlösung sicher nicht realistisch, weil die israelische Regierung sie nicht verfolgen wird.

Aber wenn man langfristig und strategisch denkt, gibt es keine andere Möglichkeit als eine verhandelte Lösung, die das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser:innen garantiert. Ohne das wird es keinen nachhaltigen Frieden geben. Die Palästinenser:innen werden sich nicht einfach mit einem permanenten Status als Staatenlose ohne moderne Bürgerrechte abfinden.

Es gibt keinerlei Rechtfertigung für das schreckliche Massaker, das die Hamas am 7. Oktober verübt hat. Gleichzeitig muss man aus Sicht der Konfliktforschung sagen: Dass es in einer solchen Situation zu Gewalt und Konflikten kommen wird, ist leider sehr wahrscheinlich.

Staatenversteher

Andreas Wimmer (61) ist Professor für Soziologie und politische Philosophie an der renommierten Columbia-Universität in New York. 1994 hat er an der Universität Zürich habilitiert.

Er forscht zur Dynamik von Nationalstaatenbildung, ethnischer Grenzziehung und politischen Konflikten und hat mehrere Bücher geschrieben, etwa «Nation Building. Why Some Countries Come Together While Others Fall Apart» (Princeton University Press, 2018).

 

Portraitfoto von Andreas Wimmer

Die Zweistaatenlösung liegt seit Jahrzehnten auf dem Tisch. Warum sind wir bis heute in dieser Frage nicht weiter?

Der Hauptgrund dafür ist eine Konfliktspirale aus Gewalt, Gegengewalt, mehr Besetzung, weniger Autonomie, mehr Gewalt. Die Versprechungen, die in Oslo gemacht wurden, sind nicht eingehalten worden. Es gab Provokationen aufseiten der israelischen Politiker, dann den gewalttätigen palästinensischen Aufstand, die Zweite Intifada. Die Selbstmordattentate jener Zeit haben den Willen der israelischen Bevölkerung und Politik, weiter an einer Zweistaatenlösung zu arbeiten, unterminiert. Israel hat die Besetzung intensiviert. Das führte wiederum zu einer weiteren Radikalisierung der Palästinenser:innen, von denen viele nicht mehr glauben, dass sie ihre Situation je durch eine Verhandlungslösung verbessern können. Und man darf auch ruhig sagen, dass innerhalb der israelischen Bevölkerung die Idee immer populärer geworden ist, dass eine Zweistaatenlösung vermeidbar sei; dass man die palästinensische Bevölkerung stattdessen einfach unter dem Daumen der Repression behalten und so auch Terror verhindern könne.

Das ist das politische Programm von Regierungschef Benjamin Netanjahu.

Der Likud ist mit dem expliziten Ziel gegründet worden, eine Zweistaatenlösung zu verhindern. Spiegelbildlich zur Radikalität der Hamas steht im Gründungsdokument der Partei: «Between the Sea and the Jordan there will only be Israeli sovereignty» – das Land gehört uns, es wird nie einen palästinensischen Staat geben. Unter anderem deshalb gewinnt die Partei Wahlen. Die Pulverisierung des Willens für eine Zweistaatenlösung auf israelischer Seite ist neben dem Hamas-Terror ein Hauptgrund für die jetzige Situation. Auch dass der Likud militärisch und sicherheitspolitisch während Jahrzehnten die radikalen Siedler:innen unterstützt hat, die eine ethnische Säuberungskampagne verfolgen, macht eine Zweistaatenlösung immer schwieriger.

Sie sind Konfliktforscher an der Universität von Columbia. An den US-amerikanischen Hochschulen tobt seit dem 7. Oktober ein Streit mit hässlichen Entgleisungen. Was halten Sie davon, dass einige Vertreter:innen der postkolonialen Forschung der Meinung sind, die Hamas führe einen legitimen Befreiungskampf?

Was stimmt, ist, dass die Gesamtstruktur Israel/Palästina einer kolonialen Situation gleicht. Die Palästinenser:innen in den besetzten Gebieten sind der Autorität von Israel unterworfen, haben aber keine politischen Rechte in Bezug auf den israelischen Staat. Ihre Selbstregierung ist auf einige administrative, alltägliche Belange beschränkt – so wie das auch in Kolonien oft üblich war.

Heisst das jetzt aber, dass Israel mit einer Kolonialmacht gleichzusetzen ist und die Hamas einen antikolonialen Befreiungskampf führt, wie es viele Linke postulieren? Nein. Die Hamas verfolgt das Programm, Israel von der Landkarte zu tilgen. Sie hat also eine genozidale Absicht. Im Gegensatz etwa zur Nationalen Befreiungsfront in Algerien, die ja nicht ganz Frankreich auslöschen und alle Franzosen vernichten, sondern diese lediglich aus Algerien vertreiben wollte. Kommt dazu, dass die Israelis gar kein Heimatland haben, in das sie zurückkehren könnten, keine koloniale Metropole. Die Analogie hört hier also auf.

Seit dem Massaker der Hamas am 7. Oktober scheint mir die Situation paradox: Einerseits hat der Angriff gezeigt, dass die Strategie der Repression nicht aufgeht. Andererseits ist es doch nachvollziehbar, wenn die israelische Bevölkerung jetzt aus Angst noch weniger bereit ist, einen palästinischen Staat zu ermöglichen.

Dieser Analyse stimme ich zu. Langfristig muss man sich aber fragen, ob es nicht trotzdem einen Pfad gibt, der zu einer Zweistaatenlösung führen könnte. Es ist ja oft so, dass solche Ereignisse wie die massive Gewalt des Hamas-Massakers neue Zukunftsmöglichkeiten schaffen, weil Allianzen durchgerüttelt, festgefahrene Wahrnehmungen aufgebrochen werden. Wenn man jetzt optimistisch sein wollte, könnte man sich drei positive Konsequenzen des schrecklichen Massakers vorstellen.

Welche sind das?

Derzeit stehen die Israelis verständlicherweise unter Schock und haben keine andere Interessen und Perspektiven als ganz unmittelbar ihre eigene Sicherheit. Nehmen wir aber einmal an, es gelingt der israelischen Armee, zumindest die Führungsstruktur der Hamas zu zerstören und einen Sieg über die Hamas zu deklarieren, dann wird es vorstellbar, dass sich die öffentliche Meinung verschiebt und sich in Israel die Erkenntnis durchsetzt, dass permanente Repression keine Sicherheit bringt.

Zweitens ist es möglich, dass sich die US-amerikanische Aussenpolitik zur Einsicht durchringt, dass eine bedingungslose Unterstützung jeder israelischen Regierung – unabhängig von deren politischer Position – immer wieder ins Desaster führen wird; dass die Unterstützung von Israel deshalb an Bedingungen geknüpft werden muss, insbesondere an den Willen, eine Zweistaatenlösung ernsthaft zu avisieren und die Siedler:innen endlich unter Kontrolle zu bringen.

Und schliesslich wäre eine Revolution innerhalb der palästinensischen Bevölkerung nötig. Mahmud Abbas müsste als Chef der Palästinensischen Autonomiebehörde gehen und eine jüngere Generation von Fatah-Führern an die Macht kommen.

Ist es aber für Israelis jetzt nicht schwieriger denn je, sich darüber klar zu werden, dass Repression nicht die Lösung ist? Diese Einsicht würde sich wohl nach dem Massaker vom 7. Oktober für viele wie eine Belohnung dieser Tat anfühlen.

Eben deshalb wäre es wichtig, dass die Hamas als Organisation tatsächlich zerstört wird, dass also der Krieg gewonnen wird, dass die Hamas nicht einen Sieg für sich reklamieren kann. Das wäre eine der Voraussetzungen, die einen Schritt Richtung Zweistaatenlösung möglich machten.

Gibt es aber überhaupt noch Anführer, hinter denen sich die Palästinenser:innen versammeln würden – jenseits der radikalen Hamas?

Es stimmt, dass im Moment für Verhandlungen kein wirklich legitimer, lokal verankerter Partner vorhanden ist. Mahmud Abbas hat jede Glaubwürdigkeit verloren, seine Regierung im Westjordanland gilt als korrupt, politisch schwach und gerontokratisch. Es bräuchte jemanden, der genug Legitimität und Ausstrahlung hat, um die palästinensische Bevölkerung auf den Pfad des Friedens mitzunehmen. Denn diese müsste ja für eine Friedenslösung schmerzhafte Kompromisse machen: Wer beispielsweise in Friedensverhandlungen auf dem Rückkehrrecht aller Palästinenser:innen beharrt, torpediert diese von Anfang an. Von Expert:innen wird als möglicher Abbas-Nachfolger oft Marwan Barghuti ins Spiel gebracht.

Barghuti sitzt aber wegen der Beteiligung an Terroranschlägen während der Zweiten Intifada in einem israelischen Gefängnis.

Ja, und Israel lässt traditionell niemanden frei, der Anschläge verübt hat. Aber Barghuti ist sowohl im Gazastreifen als auch im Westjordanland extrem beliebt, wird als Held betrachtet. Er ist kein Fanatiker, akzeptiert das Existenzrecht Israels und steht voll hinter einer Zweistaatenlösung. Israel müsste da vielleicht über seinen Schatten springen.

Neben der Zweistaatenlösung gibt es auch noch das Konzept der Einstaatenlösung, das von vielen Linken und Menschenrechtsaktivisten propagiert wird. Wie ist ihre Haltung dazu?

Ich halte die Einstaatenlösung für völlig unrealistisch. Das würde ja de facto heissen, dass Israel kein jüdischer Staat mehr wäre. Und ich glaube nicht, dass die Israelis je an der Urne der Abschaffung von Israel als Nationalstaat zustimmen würden. Interessanter finde ich die jordanische Lösung, die in den achtziger Jahren noch auf dem Tisch lag, aber mittlerweile kaum mehr diskutiert wird. Wenn die Westbank und vielleicht auch Gaza Teil von Jordanien würden, wäre Jordanien mehrheitlich palästinensisch, das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser:innen also innerhalb dieses Staates realisiert. Ob sie eine Chance hätte, ist aber völlig unklar.

Es gab lange kaum mehr internationalen Druck für eine Zweistaatenlösung. Nun fordert diese nicht nur US-Präsident Joe Biden wieder nachdrücklicher. EU-Chefdiplomat Josep Borrell hat gar gesagt, notfalls müsse man die Zweistaatenlösung gegen den Willen Israels durchsetzen. Für wie zielführend halten Sie diese Ankündigung?

Dass man den Druck auf Israel erhöht, eine Zweistaatenlösung zu akzeptieren, ist sehr sinnvoll. Man kann sagen: Endlich ringen sich die internationale Gemeinschaft und sogar die US-Aussenpolitik dazu durch. Bisher hatte Israel eine Art Blankocheck gehabt. Dass man davon abkommt und anfängt, langfristige Visionen für den Nahen Osten zu entwickeln, finde ich sehr richtig. Die Frage ist einfach, wie ernst das gemeint ist.

Aber was denken Sie darüber, dass Borrell die Zweistaatenlösung notfalls gegen den Willen Israels durchsetzen will?

Natürlich könnte man Israel die Zweistaatenlösung wortwörtlich aufzwingen, indem zum Beispiel die USA und Europa Palästina einfach als Staat anerkennen würden, aber das halte ich nicht für sinnvoll. Denn dann würde sich Israel komplett von der Weltgemeinschaft und seinen vormaligen Verbündeten abwenden.

Der einzige Weg hin zu einer Zweistaatenlösung führt meiner Meinung nach über Verhandlungen mit neuen Partnern. Das mag derzeit unwahrscheinlich klingen, aber es ist nicht unrealistisch. Es ist eine Möglichkeit, auf die die internationale Gemeinschaft hinarbeiten muss. Wenn klar wäre, dass es keine finanzielle und militärische Unterstützung mehr für eine israelische Regierung gibt, die nicht ernsthaft eine Friedenslösung anvisiert, würde dies vielleicht die Wähler:innen beeinflussen. Das Gleiche auf der palästinensischen Seite: Die internationale Gemeinschaft finanziert ja im Prinzip die ganze palästinensische Regierung. Sie hat also das Druckmittel in der Hand, um auf einen Generationenwechsel bei der Fatah und auf eine Demokratisierung hinzuwirken.

Machen wir keine Schritte in diese Richtung, wird der Status quo weitergeführt oder es werden gar diejenigen Stimmen gestärkt, die auf eine hässliche Lösung des Konflikts hinarbeiten.

Eine hässliche Lösung?

So wie es das Projekt der Hamas ist, Israel zu vernichten, haben die israelischen Rechtsaussenparteien, die Teil der Regierung sind, die Vision, die Palästinenser:innen endgültig zu vertreiben. Und die Siedler:innenbewegung arbeitet in der Westbank ja bereits gezielt darauf hin. Dass es die Hamas schafft, die jüdische Bevölkerung aus dem Nahen Osten zu vertreiben, ist aufgrund der militärischen und weltpolitischen Kräfteverhältnisse völlig unrealistisch. Israel hätte aber umgekehrt die militärischen und infrastrukturellen Kapazitäten, die Palästinenser:innen zu vertreiben. Doch käme es tatsächlich zu Massenvertreibungen, würde dies ganz sicher zum Verlust der Unterstützung durch die Amerikaner und Europäer führen. Und die Konflikte mit den Nachbarstaaten – es gab da ja in den letzten zwanzig Jahren einen Befriedungsprozess – würden wieder aufflammen. Einen nachhaltigen Frieden würde die hässliche Variante nicht bringen und damit auch keine stabile Sicherheit für die Israelis.