UNRWA-Mitarbeitende unter Verdacht: In Gaza droht der Kollaps der humanitären Hilfe

Nr. 5 –

Wegen neuer Vorwürfe an die UNRWA haben mehrere Länder die Zahlungen an das Uno-Palästinenser:innenhilfswerk storniert. Eine Hungersnot ist nun laut dem Uno-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung unausweichlich.

die UNRWA liefert am 28. Januar Mehlsäcke in eine ihrer Schulen in Rafah
Das Uno-Hilfswerk als letzte Überlebenschance für die Menschen in Gaza: Die UNRWA liefert am 28. Januar Mehlsäcke in eine ihrer Schulen in Rafah.  Foto: Ismael Mohamad, Imago

Vor ein paar Wochen beschrieb der Vorsitzende des Uno-Palästinenser:innenhilfswerks UNRWA, Philippe Lazzarini, an einer Pressekonferenz, was er bei seinem jüngsten Besuch in Gaza erlebt hatte: «Die Menschen halten die Lastwagen mit Hilfslieferungen an, nehmen die Lebensmittel und essen sie sofort», sagt Lazzarini. «So verzweifelt und hungrig sind sie.»

Damals, Mitte Dezember, warnte die Uno: Wenn der Krieg so weitergehe, drohe in Gaza eine Hungersnot. Der Krieg ging weiter, die israelische Armee bombardierte unentwegt den Gazastreifen, auch in Gebieten, die sie selbst als «sicher» deklariert hatte. Bis heute gelangen noch immer viel zu wenige Hilfsgüter nach Gaza. Es fehlt an allem: Essen, Trinken, Treibstoff, Medikamenten. Die Fälle von Durchfall bei Kindern unter fünf Jahren sind auf das 33-Fache gestiegen. Ärzt:innen sehen sich gezwungen, Kriegsverletzte und schwangere Frauen, die einen Kaiserschnitt brauchen, ohne Betäubungsmittel zu operieren.

Am vergangenen Freitag entschied der Internationale Gerichtshof in Den Haag, dass der Vorwurf, Israels Kriegsführung in Gaza trage genozidale Züge, zumindest plausibel sei, und forderte Israel auf, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um das zu verhindern. Insbesondere sollten die Hilfslieferungen nach Gaza erheblich aufgestockt werden – um zu verhindern, dass zu Tausenden Zivilist:innen, die bei Bombenangriffen getötet wurden, in wenigen Wochen Zehntausende kommen, die an Hunger und Krankheiten sterben.

Doch dann kam vor wenigen Tagen diese Meldung: Die UNRWA gab bekannt, dass mutmasslich zwölf ihrer Mitarbeitenden am 7. Oktober am Massaker der Hamas und ihrer Verbündeten in Israel beteiligt gewesen sein könnten. Die Anschuldigungen hatte der israelische Geheimdienst an das Hilfswerk herangetragen.

154 Geflüchtetenunterkünfte

Lazzarini entliess daraufhin die Beschuldigten und leitete eine Untersuchung ein. Doch obwohl er umgehend auf die Vorwürfe reagierte, haben seither elf Länder ihre Zahlungen an die UNRWA vorläufig eingestellt. Darunter einige der grössten Geldgeber: die USA, Grossbritannien und Deutschland. Das deutsche Aussenministerium teilte mit, man wolle die Ergebnisse der Untersuchung abwarten und so lange kein Geld sprechen. In der Schweiz wird über weitere Zahlungen erst nach der Konsultation der aussenpolitischen Kommissionen entschieden.

Was nun droht, ist nichts weniger als der Kollaps der humanitären Hilfe in Gaza. «Rund 3000 Angestellte von insgesamt 13 000 arbeiten noch und schaffen eine Lebensgrundlage für ihre Gemeinschaften, die nun wegen der Finanzierungslücke jeden Moment kollabieren könnte», schreibt Philippe Lazzarini am vergangenen Wochenende in einer Stellungnahme. Und der Uno-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, Michael Fakhri, schrieb auf der Plattform X: «Es drohte eine Hungersnot. Jetzt ist sie unausweichlich.» Unicef-Sprecher Ammar Ammar schreibt auf Anfrage: «Die Entscheidung wird nichts weniger als katastrophale Folgen für die Kinder und ihre Familien bedeuten.»

Die UNRWA ist in Gaza nicht einfach eine Hilfsorganisation unter vielen – sie ist das Rückgrat der humanitären Hilfe. Das Palästinenser:innenhilfswerk wurde 1949 für die Versorgung der palästinensischen Flüchtlinge gegründet, die im Zuge der Staatsgründung Israels vertrieben worden waren. Genauso lange operiert die Institution bereits in Gaza, wo rund siebzig Prozent der Bevölkerung Geflüchtete von damals oder ihre Nachkommen sind, sie betreibt Schulen, Gesundheitskliniken und kümmert sich um die Infrastruktur in den Flüchtlingslagern.

Jetzt, im Krieg, liefen achtzig Prozent der humanitären Hilfe nach Gaza über die UNRWA, sagt Shaina Low vom Norwegian Refugee Council (NRC). Die UNRWA betreibt noch immer 6 von ursprünglich 22 Gesundheitszentren sowie 154 Geflüchtetenunterkünfte, die Mehrheit der Vertriebenen kommt entweder dort oder in ihrer Nähe unter. Viele Hilfsorganisationen sind auf die Logistik der UNRWA angewiesen: Für den NRC etwa, sagt Low, bringe die UNRWA die Hilfsgüter vom Grenzübergang Rafah in die Lagerhäuser des NRC. Sie beliefere zudem alle anderen Organisationen mit Treibstoff und bringe Hilfsgüter des NRC an Orte, die wegen des Krieges für die NGO nur schwer erreichbar seien. «Es besteht ein breiter Konsens unter den Hilfsorganisationen: Wenn die Hilfe der UNRWA zusammenbricht, bricht die ganze Hilfe für Gaza zusammen», sagt Low.

Willkommene Ablenkung?

Die Episode zeigt auf verstörende Weise, inwieweit manche Regierungen offenbar bereit sind, für ihre Unterstützung Israels selbst katastrophalste Folgen für die Palästinenser:innen in Kauf zu nehmen. «Diese Regierungen wissen, dass die UNRWA die letzte Überlebenschance für die Leute in Gaza ist», sagt Muhammed Shehada, Sprecher der Menschenrechtsorganisation Euro-Med Monitor. «Die Palästinensische Autonomiebehörde kann keine Löhne mehr zahlen, weil Israel die Steuereinnahmen zurückhält. Die zivile Hamas-Regierung hat auch keine Kapazitäten mehr. Es bleibt nur noch die UNRWA.»

Khalil Sayegh, Politanalyst und Gründer der Agora-Initiative, vermutet, dass der Zeitpunkt der Veröffentlichung der Anschuldigungen kein Zufall ist. «Wenn die Vorwürfe stimmen, dann hat der israelische Geheimdienst diese Informationen vermutlich bereits in der zweiten oder dritten Woche nach dem 7. Oktober ermittelt», sagt Sayegh. Dass der Geheimdienst sie erst jetzt an die UNRWA herangetragen habe, so Sayegh, könnte darauf hindeuten, dass die Regierung damit von der Einschätzung des Internationalen Gerichtshofs ablenken wolle, dass Israel in Gaza einen Genozid begehen könnte.

Seit die UNRWA die Vorwürfe gegen ihre Mitarbeitenden öffentlich gemacht hat, gibt es Stimmen, die die Existenz der Institution grundsätzlich infrage stellen. Der deutsche FDP-Fraktionsvizepräsident, Michael Link, forderte, die Aufgaben der UNRWA auf andere Uno-Institutionen aufzuteilen. Laut Israels Aussenministerium soll die UNRWA nach dem Krieg in Gaza keine Rolle mehr spielen dürfen.

Doch die Angriffe gegen die UNRWA sind nicht neu. «In Israel denken viele, wenn man die UNRWA auflöst und die palästinensischen Flüchtlinge einer anderen Uno-Institution unterstellt, dass sie selbst dann vergessen werden, dass sie immer noch Flüchtlinge sind», sagt Shehada von Euro-Med Monitor. «Doch das wird natürlich nicht geschehen.» Dieses Mal aber habe die Kampagne gegen die UNRWA ein neues Level erreicht. «Jeden Tag werden neue Vorwürfe publik. Sie versuchen, die Institution mit Anschuldigungen zu überschütten, damit die UNRWA möglichst lange mit internen Untersuchungen beschäftigt ist.»

Bereits Anfang Januar sagte das frühere israelische Regierungsmitglied Noga Arbell in der Knesset: «Es wird unmöglich, diesen Krieg zu gewinnen, ohne die UNRWA zu zerstören. Und die Zerstörung muss sofort beginnen.»