Bürgerliche Sozialpolitik: Der Anfang vom Ende
Mit ihren Vorschlägen zur AHV-Finanzierung bezeugen die bürgerlichen Parteien die Doppelzüngigkeit ihrer Sozialpolitik. Lassen sie sich zum Umdenken zwingen?
FDP und SVP haben ihre doppelte Niederlage an der Urne noch immer nicht verdaut. Stattdessen gehen die beiden Rechtsparteien zu einem Gegenangriff über, der wie ein Rachefeldzug daherkommt: Nach dem eindeutigen Ja zur 13. Monatsrente und dem überwältigenden Nein zur Rentenaltererhöhung stellen sie das seit Einführung der AHV bewährte, nachhaltige und sozial gerechte Finanzierungsmodell via Lohnabzüge infrage.
Gemäss Ankündigungen wollen sie die 13. AHV-Rente ausschliesslich (SVP) oder vor allem (FDP) mittels Sparmassnahmen beim Bund finanzieren. Wenig überraschend möchte die SVP im Asylbereich, bei der Ukraine- und Entwicklungshilfe sowie in der Bundesverwaltung hohe Milliardenbeträge streichen. Mitte-Partei und GLP zeigen sich verhandlungsbereit. Demgegenüber hält der Bundesrat am bestehenden Finanzierungsmodell grundsätzlich fest – allerdings kündigt er eine inakzeptable, angeblich vorübergehende Kürzung der Bundesbeiträge an die AHV-Kasse an. Das dürfte auf dem Mist von Finanzministerin Karin Keller-Sutter gewachsen sein, die diesen Eingriff bereits vor einem Jahr plante, angesichts der politischen Grosswetterlage aber die Notbremse zog.
Das Scheitern ihres radikalen Kurses haben sich FDP und SVP selbst zuzuschreiben. 2017 haben sie die Vorsorgereform 2020 bekämpft. Diese hätte den Vorsorgekassen bis 2030 Luft verschafft und Reformen ermöglicht, die von einer breiten Mehrheit wohl akzeptiert worden wären. Die Reform scheiterte an der Urne.
Nun könnte die 13. AHV-Rente den Anfang vom Ende der rechtsbürgerlichen Politik in der Altersvorsorge bedeuten. Bekanntermassen steht heute nicht mehr allein der ärmste Teil der Bevölkerung unter finanziellem Druck. Hohe Mieten, mangelhafte und unbezahlbare Kinderbetreuungsangebote, verteuerte Konsumgüter und aus dem Ruder laufende Krankenkassenprämien stellen Familien bis weit in den Mittelstand vor Probleme. Das geht nicht zuletzt auf Politiker:innen zurück, die sich als Lobbyist:innen gut bezahlen lassen und etwa die Interessen von Immobilien- und Finanzbranche höher gewichten als jene ihrer Wähler:innen.
Ein vom Gewerkschaftsbund in Auftrag gegebener Expert:innenbericht kam bereits 2007 zum Schluss, dass es sinnvoll wäre, Lohnprozente von der Pensionskasse in die AHV zu verschieben. Demnach hätte sich so ein Rentenniveau von monatlich 3000 Franken erreichen lassen, das dem Verfassungsauftrag zumindest halbwegs entspräche: Dieser lautet, dass die AHV existenzsichernd sein soll. Das ist sie bis heute nicht. Auch weil die bürgerliche Parlamentsmehrheit die Profite von Versicherungen und Banken schützt, wenn es um die Verwaltung von Pensionskassengeldern geht. Den Versicherten hingegen mutet sie Rentenkürzungen zu. Warum wohl stellen FDP und SVP zusätzliche Lohnprozente zur Finanzierung der 13. AHV-Rente infrage, nicht aber die Lohnabzüge für Pensionskassen? Zwar sind Letztere fast doppelt so hoch wie jene für die AHV – aber mit ihnen kann die Finanzindustrie Gewinne erwirtschaften.
Die Doppelzüngigkeit hat System, wie ein anderes Beispiel zeigt. In der Gesundheitskommission wäre 2021 eine Vorlage, die den Marktanteil von Generikamedikamenten angehoben und gleichzeitig deren in der Schweiz überhöhte Verkaufspreise gesenkt hätte, beinahe durchgekommen. Bis SVP-Nationalrat Thomas de Courten einschritt und eine Lösung verhinderte. De Courten ist Präsident des Verbands Intergenerika.
Im Juni wird sich zeigen, ob die Stimmbevölkerung die Problemlösung selbst in die Hand nimmt und den Krankenkasseninitiativen von SP (Prämienverbilligung) und Mitte (Kostenbremse) zustimmt. Umgekehrtes gilt für die Abstimmung im September: Die vom Parlament aufgegleiste Pensionskassenreform droht das Rentenproblem für alle Generationen zu verschärfen, ein Nein zwänge die bürgerliche Mehrheit zu einem Umdenken im Interesse der Versicherten. So könnte das Jahr 2024 tatsächlich einen sozialpolitischen Wendepunkt in der Schweiz einläuten – der Anfang ist gemacht.