Europäisches Asylsystem: Wogegen wird hier gekämpft?

Nr. 16 –

Wo liegen Europas Grenzen? Als vergangene Woche die Abgeordneten des EU-Parlaments über die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (Geas) abstimmen, schweben Papierflieger durch den Saal, versehen mit Koordinaten. Sie markieren Orte, an denen Migrant:innen auf dem Weg in die EU gestorben sind. «Dieser Pakt tötet, stimmt Nein!», rufen die Aktivist:innen, die die Flieger von den Balkonen des Saals geworfen haben.

Die Parlamentarier:innen nehmen die Reform an. Es ist ein historischer Schritt – auch wenn die Geas letztlich wenig wirklich Neues enthält. Die wichtigste Verschärfung sieht vor, den Hotspotansatz, der auf den griechischen Inseln in dieser Form seit 2016 umgesetzt wird, auf die restlichen Aussengrenzen auszuweiten. Das heisst: Möglichst viele Asylsuchende sollen nach ihrer Ankunft in Lagern festgehalten und direkt in ihr Herkunfts- oder ein Drittland zurückgeschafft werden. Für die Ankommenden in Griechenland hatte die EU die Rückschaffung in die Türkei vorgesehen.

Mit der Realität haben all diese Pläne wenig zu tun. Die letzten Jahre haben gezeigt: Menschen an den Grenzen werden nicht aufgeben und umkehren, egal wie oft und brutal man auf sie einprügelt. Und Rückschaffungsabkommen funktionieren nie so, wie die Politiker:innen sie sich ausmalen. Das beste Beispiel ist der EU-Türkei-Deal. Das Modell ist gescheitert. Rückschaffungen konnten bald nicht mehr vollzogen, Verfahrensfristen nie eingehalten werden, auf den Inseln herrscht unvorstellbares Elend. Dass es nun trotzdem als Vorlage für die künftige EU-Politik dient, zeigt vor allem, dass sich viele der Verantwortlichen gar nicht für die tatsächliche Situation an den Grenzen interessieren.

So wird auch das aktuelle Vorhaben scheitern – und die Rechte wird von diesem Scheitern profitieren. Die Gewalt gegen Flüchtende an den Grenzen wird noch weiter zunehmen; die Fluchtmigration wird aber auch das Geas nicht zum Verschwinden bringen. Vor den Europawahlen in fünf Jahren werden die jetzigen Verschärfungen bereits normalisiert worden sein. Nurmehr als Grundlage für noch weitreichendere Verschärfungsforderungen. Bereits jetzt bringen sich die einschlägigen Akteur:innen dafür in Stellung. Weil sie angeblich zu wenig weit gehe, lehnte das Rassemblement National die Geas-Reform ebenso ab wie Victor Orbáns Fidesz-Partei.

Angesichts des rechten Siegeszugs ist es leicht (und verständlich), sich machtlos zu fühlen. Umso wichtiger ist es jetzt, Antworten darauf zu suchen – und eine Kritik zu artikulieren, die über einen moralischen Aufschrei hinausgeht. Denn dieser perlt an den Verantwortlichen ab. Die autoritären Galionsfiguren sind froh darüber, sich mit unmenschlicher Härte brüsten zu können.

Über moralische Fragen hinausdenken: Das hiesse vor allem, die Grenzpolitik von der Peripherie ins Zentrum der hiesigen politischen Auseinandersetzung zu verlegen. Denn hier gehört sie hin: Asylrecht ist kein Luxus, den sich Staaten leisten können, sofern es ihre Situation gerade zulässt, wie das etwa die deutsche Sozialdemokratie gern insinuiert. Und Solidarität bedeutet mehr als bloss Mitgefühl.

Umgekehrt gilt, dass die EU an den Aussengrenzen, namentlich im Mittelmeer, nicht bloss Hilfe unterlässt, sondern einen aktiven Kampf führt. Viel zu selten wird gefragt, wofür und wogegen hier überhaupt gekämpft wird. Geht es vor allem um den Erhalt einer konstruierten kulturellen Reinheit, um einen rassistischen und neokolonialen Ausgrenzungskampf? Oder doch vor allem um ökonomische Fragen, um Abstiegsängste? Europäische Grenzpolitik – das ist immer auch militarisierter Klassenkampf von oben.

Die einfache Antwort: Es geht um alles. Wer Migrant:innen an den Aussengrenzen angreift, greift die Grundpfeiler einer solidarischen Gesellschaft an. Wenn die Geflüchteten in den Haftlagern nicht frei sind, sind wir es alle nur unter Vorbehalt. Und die Grenzen, die die Geas-Reform weiter militarisiert, verlaufen nicht nur durch den Balkan, das Mittelmeer und die Ägäis, sondern auch durch Brüssel, Zürich und Oberwil-Lieli. Dagegen anzukämpfen, ist nichts, was die Linke aus der Defensive heraus tun sollte, sondern ihr eigentliches Kerngeschäft.

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Kommentare

Kommentar von Igarulo

Do., 18.04.2024 - 12:14

Das Flüchtlingsproblem ist nicht lösbar. Auch nicht mit grenzenloser Solidarität. Wir müssen mit den Dilemmata leben.