Sachbuch: Weder Opfer noch Projektionsfläche

Nr. 16 –

Buchcover von «Mein Bruder Marco. Eine Annäherung»
Ueli Mäder: «Mein Bruder Marco. Eine Annäherung». Rotpunktverlag. Zürich 2024. 192 Seiten. 30 Franken. Lesungstermine am 20. und 22. April 2025: www.rotpunktverlag.ch.

Der Einstieg ist unverblümt: ein Leichenfund am 14. April 2013. Der Tote – «verkrebste Kehle, entzündeter Magen» –, knapp 66 Jahre alt, war lange alkoholkrank. «Dein Abgang wirft Fragen auf», schreibt der Basler Soziologe Ueli Mäder; und will Antworten finden in einem langen Abschiedsbrief an seinen toten älteren Bruder Marco. Entlang lose gegliederter Kapitel entfaltet sich das brüchige Leben eines Begabten aus sogenannt einfachen Verhältnissen; ein Leben, das in der zweiten Hälfte immer mehr ins Stocken geriet. Die Briefform hilft dem Autor, sich nicht in soziologische Analysen, moralische Urteile und Mythen zu flüchten, sondern sein Gegenüber klar und persönlich anzusprechen: «Du wolltest weder Opfer noch eine Projektionsfläche sein; vor allem keine negativ besetzte.»

Marco Mäder war sportlich, ein Handballtalent. Die Brüder blieben sich nahe, ohne stets einig zu sein, verstanden sich auch neben dem Spielfeld oft ohne Worte. Nach der RS verweigert der Theologiestudent und Friedensforscher Marco den Militärdienst und muss ins Gefängnis. Später arbeitet er in einer Notschlafstelle für Jugendliche und in der Bewährungshilfe. Das Buch kreist um 68er-Ideale – «Seien wir realistisch, verlangen wir das Unmögliche» – und ihre alltägliche Verwirklichung, spürt Wahrheiten über Freiheiten und ihre Verklärung nach.

Ein gelebtes Leben lässt sich nie ganz entschlüsseln. Warum fängt einer an zu trinken und der andere wird Professor? Oder in der Sprache des Buchs: Was verbindet «meinen Arbeitseifer und deine Alkoholsucht»? Zu solchen (Selbst-)Reflexionen von Ueli Mäder kommen im Kapitel «Abschied nehmen» Erinnerungen von anderen. Und «Mein Bruder Marco» gibt auch Einblick in alte Beziehungsnetze, in freundschaftliche und nachbarschaftliche Hilfe, oft von Frauen, die dem kranken Bruder beigestanden sind, wenn er sturzbetrunken selber kaum noch wusste, wo oder wer er war.