Siedlergewalt im Westjordanland: Das letzte Haus in der Strasse
Nach dem Tod eines vierzehnjährigen Siedlers ist die Gewalt im Westjordanland eskaliert. Während Palästinenser:innen weitere Racheakte durch Siedler fürchten, trauern die Eltern um ihren Sohn. Eine Reportage.
Benjamin Achimeir verschwindet am Morgen des 12. April. Kurz nach Sonnenaufgang hatte der Vierzehnjährige mit den blonden Locken eine Schafherde des israelischen Aussenpostens Malachei Shalom im besetzten Westjordanland zum Grasen in die kahlen Hügel nahe des Jordantals geführt, gegen Mittag kommen die Tiere ohne den Jungen zurück. Als die Nachrichten davon die Runde machen, ahnen viele Palästinenser:innen in den umliegenden Dörfern bereits Böses. «Einer der Siedler wird vermisst, komm nach Hause», schreibt die siebzehnjährige Schülerin Nur Abu Raschid im zwei Kilometer entfernten Dorf Al-Mughayyir ihrem Vater. Polizei, Armee und zahlreiche Freiwillige aus der Region starten eine gross angelegte Suchaktion. Noch am Nachmittag machen sich Hunderte schwer bewaffnete Siedler auf den Weg in die umliegenden palästinensischen Dörfer.
In Al-Mughayyir, nordöstlich von Ramallah, schauen Muhammad und Rania Abu Aliya aus dem Fenster im ersten Stock über der Autowerkstatt der Familie. «Sie kamen von zwei Seiten den Berg herunter», erzählt der 24-jährige Mechaniker, dessen Frau Rania im siebten Monat schwanger ist. «Unser Haus ist das letzte in der Strasse. Ich konnte von hier sehen, wie sie die Nachbarhäuser angriffen und immer näher zu uns kamen.» Als sie die Werkstatt erreichen, die Abu Aliya vor eineinhalb Jahren aufgemacht hat, zünden sie Autoreifen im Innern an. «Ich habe die brennenden Reifen aus der Werkstatt geräumt, da hielt mir einer der Siedler seine Pistole an den Kopf und drückte ab», sagt er. Doch die Waffe ist nicht geladen oder zündet nicht, ausser einem Klicken passiert nichts. Die Angreifer ziehen weiter.
Am Samstag, einen Tag nach dem Verschwinden, finden Sicherheitskräfte die Leiche von Benjamin. Die Armee gibt kurz darauf an, dass der Körper des Jungen Spuren von Gewalt aufweist, und spricht von einem «Terrorangriff». Hunderte maskierte und mit Pistolen und Sturmgewehren bewaffnete Siedler überfallen daraufhin erneut rund ein Dutzend Dörfer, darunter wieder Al-Mughayyir, Duma, Beitin und Akraba. Es sind die grössten Ausschreitungen von Siedlern gegen Palästinenser:innen seit dem Beginn des Gazakriegs im letzten Oktober. In Al-Mughayyir wird der 25-jährige Dschihad Abu Aliya, in Beitin der 17-jährige Omar Hamed erschossen, mutmasslich von Siedlern.
Insgesamt zünden die Angreifer laut der israelischen Menschenrechtsorganisation Yesh Din mehr als hundert Autos und rund sechzig Häuser an, töten und stehlen Hunderte Schafe und Ziegen und erschiessen mindestens vier Menschen. Der palästinensische Rettungsdienst meldet mehr als ein Dutzend Verletzungen durch scharfe Munition. Die israelische Armee ist in vielen Fällen anwesend, greift jedoch kaum ein.
Angst vor weiteren Angriffen
Fünf Tage später hängt in Al-Mughayyir noch immer der Geruch nach kalter Asche in der Luft. Die Zufahrtsstrasse zum Dorf ist von verkohlten Autowracks gesäumt, die Werkstatt von Abu Aliya ausgebrannt. «Ich habe gerade angefangen, Geld zu verdienen, jetzt ist alles weg», sagt er. Nur der Kredit sei noch da, fügt er hinzu und lacht trocken. «Sie haben sogar das Feuerwehrauto angezündet, das zum Löschen kam.»
Im ersten Stock räumt seine Frau Rania mit ihren Verwandten die verbrannte Wohnung auf, in die die Angreifer einen Molotowcocktail geworfen haben. «Dort sollte das Kinderzimmer sein», sagt die 23-Jährige und deutet auf einen Raum mit zersprungenen Fenstern. Sie sei am Samstag nur Minuten vor dem Angriff ins nahe Haus ihrer Eltern geflohen. Seitdem wache sie in der Nacht vom kleinsten Geräusch auf. «Ich habe Angst um mein Kind und dass sie wiederkommen und ich nicht rechtzeitig fliehen kann.» Eine der Schwestern ruft dazwischen: «Aber dein Mann ist doch ein Löwe.» Muhammad scherzt: «Wahrscheinlich würde ich als Erstes weglaufen.»
Die Familie Abu Raschid, die Nachbar:innen von Muhammad und Rania Abu Aliya, hat ein Zelt vor ihrem ausgebrannten Haus aufgestellt. Sieben Menschen wohnen und schlafen hier auf dünnen Matratzen auf dem Gras. Die Schülerin Nur, die am 12. April ihren Vater benachrichtigt hatte, sitzt auf einem verkohlten Sofa. «Als die Siedler am Samstag kamen, wollte ich unsere Schafe weiter ins Dorf treiben», erzählt das Mädchen. Sie hätten Steine geworfen, sie habe Steine zurückgeschmissen. Ein Maskierter habe ihr daraufhin aus fünfzehn Metern Entfernung zweimal in die Beine geschossen, erzählt sie. «Vor Aufregung habe ich erst gar nicht gemerkt, dass er mich getroffen hat.» Die Kugeln hätten bisher nicht entfernt werden können, weil sie zu nahe an den Nerven sässen, sagt Vater Schehada. Das Haus, gebaut mit den Ersparnissen der vergangenen zehn Jahre, sei schwer beschädigt, fast alle Möbel zerstört, ebenso wie der Generator, die Solarzellen sowie der Grossteil des Futters für die Tiere.
Mehr als 700 000 Israelis leben in völkerrechtlich illegalen Siedlungen im seit 1967 besetzten Westjordanland. Seit dem Beginn des Gazakriegs nach dem Überfall der Hamas am 7. Oktober wurden hier fast 500 Palästinenser:innen getötet, darunter sowohl Zivilist:innen als auch bewaffnete Kämpfer militanter Gruppen. Im gleichen Zeitraum starben dreizehn Israelis, zwei von ihnen Angehörige der Sicherheitskräfte. Razzien der Armee gibt es fast jede Nacht.
Waffengesetze gelockert
In den vergangenen Jahren haben die Spannungen weiter zugenommen, massgeblich seitdem Mitglieder des extremistischen Flügels der Siedlerbewegung wie die Minister Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich an der Regierung beteiligt sind. Im Schatten des Gazakriegs ist die Situation weiter eskaliert. Dutzende Gemeinden, vor allem Beduinenfamilien, haben seit Oktober nach brutalen Überfällen und Drohungen seitens der Siedler:innen ihre Dörfer aufgegeben.
Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch wirft der israelischen Armee vor, diese Vertreibungen teils unterstützt zu haben. Die Einberufung von 5500 Siedlern zum Reservedienst im Westjordanland, darunter auch solche mit Vorstrafen wegen Gewalt gegen Palästinenser:innen, hat die Grenze zwischen der Armee und den Siedlergruppen verwischt. Diese treten seit einer Lockerung des Waffenrechts durch Minister Ben-Gvir mittlerweile oft mit Sturmgewehren bewaffnet auf.
Das hat Konsequenzen: Wurden die meisten Palästinenser:innen bisher bei Einsätzen der Armee getötet, steigt nun die Zahl der Opfer durch direkte Konfrontationen zwischen bewaffneten Siedlern und Palästinenser:innen. Die Vereinten Nationen haben zwischen Oktober und Anfang April mehr als 700 Übergriffe durch Siedler gezählt. Dabei wurden siebzehn Palästinenser:innen getötet. Sieben Siedler starben im gleichen Zeitraum durch Gewalt seitens der Palästinenser.
Was diese Eskalation bedeutet, bekamen auch die Bewohner:innen der Stadt Akraba im nördlichen Westjordanland am Montag nach dem mutmasslichen Mord an Benjamin Achimeir zu spüren. Am Morgen rief der palästinensische Bauer Maher Bani Fadal Leute aus der Gemeinde zu Hilfe, als Siedler mit einer Kuhherde auf seine Felder vordrangen. Auseinandersetzungen wie diese sind im Westjordanland an der Tagesordnung. Die rund dreissig Palästinenser hätten nach kurzer Zeit einer Gruppe von fünfzig Siedlern und einer Handvoll Soldaten gegenübergestanden, erzählt er.
Auf einem Video des Vorfalls sind zwei Salven von Schüssen zu hören. «Zuerst haben sie in die Luft geschossen. Beim zweiten Mal haben sie auf uns gezielt und zwei tödlich getroffen», sagt Bani Fadal, der mit Freunden die Totenwache für seinen dreissigjährigen Sohn Abdul Rahman hält. Um ihn herum sitzen Freunde und Familienmitglieder auf Plastikstühlen. «Ich wusste, dass er tot ist, als sie ihn in die Brust getroffen haben.» Er sei in den Armen seines Bruders Aisa gestorben. Der habe sich seitdem in seinem Zimmer eingeschlossen, sagt der 56-Jährige und stützt sich beim Reden auf einen knorrigen Gehstock. Bani Fadals Bruder, ein Mann mit grauem Vollbart, legt ihm die Hand auf die Schulter.
Der Sanitäter Jussef Diria gelangte am Montag als Einziger von sechs Kollegen mit seinem Krankenwagen über einen Schleichweg zum Ort der Auseinandersetzung. Die anderen habe die israelische Armee aufgehalten. Ausser den verletzten Bruder Aisa ins Krankenhaus zu fahren, habe er nichts mehr tun können. Die Leichen beschlagnahmte die Armee für eine Obduktion, am Sonntag wurden sie zurückgegeben. Einer ersten Mitteilung der Armee zufolge habe keiner der Soldaten einen Schuss abgegeben.
Verhängte Sanktionen
International zeichnet sich ein Kurswechsel ab. Nachdem die USA bereits Anfang des Jahres Sanktionen gegen vier bekannte Siedler verhängt hatten, zog die EU vergangene Woche nach und belegte ebenfalls vier Personen sowie zwei Jugendgruppen mit Sanktionen. Darunter die extremistische Hügeljugend, deren Mitglieder in kleinen, selbst nach israelischem Recht illegalen Aussenposten leben. Malachei Shalom galt bis vor rund einem Jahr ebenfalls als illegaler Aussenposten, bevor er nach israelischem Recht legalisiert wurde. Sanktionierte dürfen unter anderem nicht mehr in die EU einreisen. Die USA legten nun nach und sanktionierten mit Ben-Zion Gopstein einen engen Vertrauten Ben-Gvirs. Die Sanktionen haben jedoch vor allem symbolische Bedeutung und dürften an der Situation vor Ort zunächst wenig ändern.
Abseits der Gewalt und der Weltpolitik im verschlafenen Jerusalemer Stadtteil Kiryat Hayovel betrachten die Eltern des vierzehnjährigen Benjamin ein Fotoalbum. Ofir und Miriam Achimeir ist der Schmerz über den Verlust ihres Kindes anzusehen. Ihr Sohn, das fünfte von sieben Kindern, habe «niemandem etwas nehmen wollen», sagt Miriam. Er sei erst seit September auf eine religiöse Schule in der Siedlung Schilo gegangen und an den Wochenenden häufiger auf der Malachei-Shalom-Farm gewesen. «Es gibt dort einen guten Verwalter und eine Armeebasis direkt nebenan», sagt Vater Ofir, daher habe er sich keine Sorgen um Benjamin gemacht. Er habe die Ausflüge seines Sohnes unterstützt, erklärt der Pädagoge mit der schwarzen Kippa der orthodoxen Juden.
Seine Familiengeschichte steht stellvertretend für die zunehmende Bedeutung der Religion in der israelischen Gesellschaft: «Meine eigene Rebellion gegen meine Eltern war, dass ich religiös geworden bin, obwohl sie es mit dem Glauben nie so genau nahmen», sagt Ofir. Seine eigenen Kinder, besonders Benjamin und dessen Bruder, seien mit dem einfachen Leben in den Siedlungen noch einen Schritt weiter gegangen. «Ich unterstütze, was sie tun und getan haben», sagt er. Für ihn bedeutet das: Verbundenheit mit dem Land, der Natur, Verantwortung für die Tiere. All das habe Benjamin gutgetan. Zur Beerdigung am vergangenen Sonntag kamen Hunderte junge Trauernde, viele von ihnen mit den gehäkelten Kippas und den Schläfenlocken, wie sie Anhänger der extremistisch-religiösen Hügeljugend tragen.
Deren Gewalt gegen Palästinenser:innen nach dem mutmasslichen Mord an seinem Sohn heisst Ofir nicht gut. Er verstehe aber, was die Siedler dazu getrieben habe: «Viele fühlten sich, als sei ihr kleiner Bruder getötet worden.»
Er habe Liebe für alle, sagt Ofir. Gefragt nach den Menschen in Al-Mughayyir aber runzelt er die Stirn: «Das ist ein sehr feindseliges Dorf. Wenn ich als Jude dorthin gehen würde, wäre ich erledigt.» Das «Volk Israel» wolle Frieden, aber: «Wir haben nur ein Land, und wir werden es verteidigen.»
Eine Woche nach dem Tod seines Sohnes nehmen israelische Sicherheitskräfte einen Palästinenser aus dem Dorf Duma in der Nähe von Malachei Shalom fest. Der 21-Jährige steht im Verdacht, Benjamin Achimeir getötet zu haben. Verhaftungen wegen der tödlichen Schüsse auf Palästinenser:innen am vergangenen Wochenende gab es bisher nicht.
In Al-Mughayyir macht Muhammad Abu Aliya eine Pause beim Aufräumen der Trümmer. Gerade wurde das Wrack des ausgebrannten Feuerwehrwagens abtransportiert. Er könne sich vorstellen, mit Israelis zu leben, solange sie in Tel Aviv oder Netanya wohnen würden, sagt er. Mit Siedlern, die ihre Tiere auf dem Land seines Dorfes grasen liessen und seine Werkstatt anzünden würden, sei kein Zusammenleben möglich. Ihm sei nichts geblieben als seine Frau Rania – gehen werde er trotzdem nicht. Angesichts der vielen neuen Waffen in den Händen von Siedlern habe er Angst. «Aber ich werde mich mit allem verteidigen, was ich habe, und wenn es Steine sind.»