Siedlergewalt im Westjordanland: Und die Polizei hilft mit
Der jüngste Gewaltexzess extremistischer Siedler und die Reaktionen darauf zeigen: Israels Rechte verändert im Schatten des Krieges systematisch das Land und seine Institutionen.
Es war kurz vor dem Gebet zum Sonnenuntergang, als sie kamen, bewaffnet mit Messern oder M-16-Sturmgewehren. «Ich war auf dem Weg zum Abendgebet, als ich gehört habe, dass Siedler hier sind», sagte Rabah Abu Hasan Reportern der Nachrichtenagentur AFP am Tag danach. Es seien mehr als neunzig Personen gewesen, die am vergangenen Donnerstag das palästinensische Dorf Dschit im Nordwesten des Westjordanlands angegriffen hätten.
Überwachungskameras haben den Überfall auf Dschit an mehreren Orten aufgezeichnet. Eine Einstellung zeigt die Veranda der Familie Arman. Zwei vermummte Gestalten in schwarzen Kapuzenpullis stürmen ins Bild und giessen Brandbeschleuniger über ein Sofa und einen Kinderstuhl. Ein Feuerzeug blitzt auf. Sekunden später füllen Flammen das Bild. «Siedler haben einen Mann getötet und Häuser angezündet, das lässt sich nur als Pogrom beschreiben», schreibt die israelische Menschenrechtsorganisation Peace Now über das Geschehen.
Lippenbekenntnisse
Im Schatten des Gazakriegs hat die Gewalt im von Israel besetzten Westjordanland stark zugenommen. Mehr als tausend Angriffe von Siedlern zählen die Vereinten Nationen seit dem 7. Oktober – rund vier pro Tag. Pogrome wie in Dschit sind noch selten, nehmen aber zu. Mindestens elf Palästinenser:innen wurden in den vergangenen zehn Monaten direkt von Siedlern getötet, zählt die Organisation Aida, ein Zusammenschluss von Nichtregierungsorganisationen.
Mit immer neuen Grenzüberschreitungen gelingt es Israels extremen Rechten, ihre Interessen voran- und den Rest der Gesellschaft vor sich herzutreiben. Der Überfall wurde zwar von führenden Politikern verurteilt. Präsident Jitzhak Herzog kritisierte den Angriff und sprach von einer «extremen Minderheit». Das passt jedoch kaum zur Tatsache, dass Führungspersönlichkeiten ebenjener Siedler:innenbewegung hohe Ministerposten besetzen.
Finanzminister Bezalel Smotrich, selbst ein ultranationalistischer Siedler, der in der Vergangenheit gewalttätige Anhänger der Bewegung als «Helden» bezeichnet hat, nannte die Angreifer überraschend «Kriminelle». Ein reines Lippenbekenntnis. Smotrich treibt aktuell die Legalisierung von 70 der 200 selbst nach israelischem Recht illegalen Aussenposten voran, in denen die radikalsten Anhänger:innen der Bewegung leben.
Ben Gvirs Vetorecht
Die israelische Staatsanwaltschaft eröffnete am Wochenende eine Untersuchung des Überfalls auf Dschit. Bei einem ersten Treffen mit Vertreter:innen der Polizei, der Armee und des Geheimdiensts musste der ermittelnde Staatsanwalt Amit Aisman laut einem Bericht des Senders Kanal 13 zunächst feststellen, dass die Sicherheitskräfte vor Ort keinerlei Beweise gesichert hatten.
Das rückt eine andere beunruhigende Entwicklung ins Licht: Die eineinhalb Jahre, die der rechtsextreme Siedler Itamar Ben Gvir mittlerweile die Führung des Ministeriums für nationale Sicherheit innehat, haben auch bei der israelischen Polizei Spuren hinterlassen. Es mehren sich Berichte, dass Beamte bei Ausschreitungen rechter Aktivist:innen untätig bleiben, während sie andernorts gegen Demonstrationen für ein Ende des Krieges in Gaza unverhältnismässig hart vorgehen.
Das dürfte auch mit zahlreichen Wechseln auf Führungspositionen der Polizei zusammenhängen. Die Besetzung hochrangiger Stellen bei der Polizei muss in Israel ministeriell bestätigt werden. Während frühere Minister von diesem Vetorecht nur in Ausnahmefällen Gebrauch gemacht hätten, nutze Ben Gvir das Mittel regelmässig, um bei Neubesetzungen mitzureden, berichtet der «Haaretz»-Journalist Josh Breiner.
Diese Einmischung verändert die Arbeit der Polizei. Der scheidende Polizeichef Kobi Schabtai, der mehrmals mit Ben Gvir aneinandergeraten war, forderte in seiner Abschiedsrede zu seiner Pensionierung im Juli nachdrücklich, den Einfluss der Politik auf die Polizei einzuhegen. Ben Gvirs Favorit für Schabtais Nachfolge, Danny Levy, soll dem Minister allerdings nahestehen.
Auch bei anderen Themen treibt Ben Gvir mit Grenzüberschreitungen seine Agenda voran. So besuchte er am Dienstag vor einer Woche mit rund 2000 Jüd:innen den Tempelberg in Jerusalem, betete und hisste eine israelische Flagge. Er verstiess damit deutlicher als je zuvor gegen den sogenannten Status quo, der Jüd:innen den Besuch, nicht aber das Beten gestattet.
Am Horizont droht indes auch ein anderer Streit wieder aufzuflammen. Justizminister Jariv Levin rief zuletzt mehrmals zu einer Wiederaufnahme der umstrittenen Justizreform auf. Die amtierende Regierung hatte bis zum 7. Oktober neun Monate lang versucht, die Kompetenzen des Obersten Gerichts zu beschneiden und die Gewaltenteilung in Israel umzugestalten. Hunderttausende Israelis waren dagegen auf die Strasse gegangen, Reservist:innen hatten gedroht, keine Einsätze in der Armee mehr zu leisten. Nicht wenige Israelis machen die daraus folgende Spaltung der Gesellschaft mitverantwortlich für die Entscheidung der Hamas, ihren Überfall zu starten. Langfristig könnte diese Spaltung dem Land gefährlicher werden als die Bedrohung durch den Iran oder die Hamas.