Asyl für Afghaninnen: Intervention unter Amtskolleg:innen

Nr. 19 –

Das Bundesverwaltungsgericht lässt mit einem neuen Urteil aufhorchen: Frauen und Mädchen aus Afghanistan sollen in der Schweiz nicht generell ein Anrecht auf Asyl haben. Ist dies das Echo einer entgleisten Politdebatte?

Einsatzkräfte der Taliban Ende Februar in Baharak, Afghanistan
Wie sicher sind Frauen in Afghanistan? Einsatzkräfte der Taliban Ende Februar in Baharak im Nordosten des Landes. Foto: Wakil Kohsar, Keystone

Im vergangenen Sommer hat das Staatssekretariat für Migration (SEM) die Schraube im Asylwesen erfreulicherweise für einmal nicht angezogen, sondern eine Praxisänderung zugunsten einer besonders gefährdeten Geflüchtetengruppe veranlasst. «Neu können weibliche Asylsuchende aus Afghanistan sowohl als Opfer diskriminierender Gesetzgebung als auch einer religiös motivierten Verfolgung betrachtet werden – wenn nicht ohnehin andere flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungsmotive zum Tragen kommen», fasste es seine Weisung Ende September in einem Faktenblatt zusammen. «Ihnen ist die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.» Eine unmissverständliche Ansage, könnte man meinen.

Drei Richter:innen des Bundesverwaltungsgerichts (BVGer) fanden darin nun dennoch einen beträchtlichen Ermessensspielraum. In einem Urteil vom 23. April, das das BVGer letzte Woche veröffentlichte, argumentieren sie: Die Aussage könne zwar so interpretiert werden, dass Frauen und Mädchen in Afghanistan generell einer Kollektivverfolgung ausgesetzt seien – was aber «weder im Einklang mit dem Gesetz noch mit der Praxis des Bundesverwaltungsgerichts» stehen würde. Von einer Kollektivverfolgung könne «nicht basierend auf dem Geschlecht allein, sondern nur aufgrund zusätzlicher Verfolgungsmotive» ausgegangen werden. Damit stützte das BVGer einen negativen Asylentscheid des SEM, gegen den die betroffene afghanische Familie Beschwerde eingereicht hatte.

Rechtsbürgerlicher Furor

Es ist ein weiterer Entscheid, mit dem sich das Verwaltungsgericht dem Vorwurf aussetzt, seine Richter:innen würden nicht unabhängig von den Parteien entscheiden, die sie ins Amt gebracht haben. Das Dreiergremium bestand in diesem Fall aus zwei SVP-Richter:innen und einem FDP-Richter – und das Urteil kam keineswegs in einem politischen Vakuum zustande.

Am Anfang stand eine Empfehlung der Europäischen Asylagentur Anfang 2023, wonach Frauen und Mädchen in Afghanistan unter den Taliban, die seit August 2021 das Land wieder vollständig kontrollieren, aufgrund ihres Geschlechts generell einer flüchtlingsrelevanten Verfolgung ausgesetzt seien. Eine ganze Reihe von Ländern von Portugal bis Finnland folgte der Einschätzung. Das SEM zog nach und setzte seine eigene Anpassung am 17. Juli in Kraft.

Das sei «still und heimlich» passiert, klagte Mitte September die «Weltwoche», als sie erstmals über die Praxisänderung berichtete. Als wäre das eine Ausnahme: Wenn das SEM neue Richtlinien an seine Sachbearbeiter:innen herausgibt, erfahren Asylsuchende und ihre Rechtsvertreter:innen in der Regel erst dann davon, wenn sich bestimmte Muster in den Entscheiden abzeichnen. Aussergewöhnlich war diesmal einzig, dass die Gesuchstellenden nicht schlechter-, sondern bessergestellt wurden. Vor einem «direkt zu erwartenden Ansturm aus dem Hindukusch» warnte nun die «Weltwoche» entrüstet, und rechtsbürgerliche Bundespolitiker:innen schlossen sich dem Furor kurz vor den eidgenössischen Wahlen umgehend an.

Die FDP-Wortführer Thierry Burkart und Damian Müller warfen dem SEM «Heimlichtuerei» vor. Und noch im September reichten mehrere Parlamentarier:innen Vorstösse zur Praxisänderung ein. Etwa Mitte-Ständerat Benedikt Würth, der vergleichbare Schritte bei anderen Herkunftsländern befürchtete. Oder die SVP-Nationalrät:innen Martina Bircher und Gregor Rutz, die vom Bundesrat forderten, die Praxisänderung gleich rückgängig zu machen.

Ungewisse Aussichten

Das BVGer stützte aber Ende November in einem Urteil die neue Praxis: Es sprach zwei jungen Schwestern aus Afghanistan das Recht auf Asyl zu, nachdem das SEM ihnen im Jahr zuvor lediglich eine vorläufige Aufnahme gewährt hatte. Im Urteil wurde auf zahlreiche Berichte von NGOs und Uno-Organisationen verwiesen und eine lange Liste der spezifischen Diskriminierungs- und Verfolgungsmechanismen für Afghaninnen aufgeführt. «Das Leben von Frauen und Mädchen in Afghanistan wird durch die Missachtung ihrer Menschenrechte zerstört», hielt das BVGer fest. Den Vorsitz des Gremiums hatte in diesem Fall eine grüne Richterin – ebenfalls vertreten waren jedoch ein parteiloser und ein FDP-Richter.

Was fünf Monate später im jüngsten BVGer-Urteil festgehalten wird, liest sich demgegenüber wie eine juristische Intervention unter Amtskolleg:innen. «Zusammenfassend ergeben sich aus den Akten keine Anhaltspunkte, wonach die Beschwerdeführer bei einer (hypothetischen) Rückkehr nach Afghanistan einer flüchtlingsrechtlich relevanten Gefahr ausgesetzt wären», heisst es da. Für die betroffene Frau, die auf einen Asylstatus für die ganze fünfköpfige Familie gehofft hatte, bleibt es damit bei einer vorläufigen Aufnahme – und für Gesuchstellerinnen aus Afghanistan bleibt die Aussicht auf nachhaltigen Schutz in der Schweiz insgesamt weiter ungewiss.

Und was macht die Politik? Rechtsbürgerliche Politiker:innen dürften das Thema weiterhin mit viel Elan und wenig Empathie beackern. Ende Monat wird das Parlament voraussichtlich den Vorstoss von Gregor Rutz behandeln – nachdem ihn die zuständige Nationalratskommission Anfang Februar nur hauchdünn abgelehnt hat.

WOZ Debatte

Loggen Sie sich ein und diskutieren Sie mit!

Login

Kommentare