Sachbuch: Ein wirklich globaler Krieg
Der britische Historiker Richard Overy rückt in einer monumentalen Darstellung des Zweiten Weltkriegs noch immer gängige falsche Vorstellungen über dieses historische Kapitel zurecht.
Seit vierzig Jahren beschäftigt sich Richard Overy mit dem Zweiten Weltkrieg. In seinem jüngsten Buch, «Weltenbrand», hat der britische Historiker seine Forschungen wie auch den aktuellen Diskussionsstand zusammengefasst. Um neue Quellen geht es ihm dabei nur am Rand; Overy will vor allem gängige falsche Vorstellungen über den Krieg zurechtrücken.
Anders als in anderen Büchern über den Zweiten Weltkrieg stehen die Schlachten auf den verschiedenen Schauplätzen in Europa, Afrika, im Pazifik und in Asien nicht im Mittelpunkt. Nur im Prolog und in weiteren vier Kapiteln werden die Wurzeln, der Verlauf und die Ergebnisse des Kriegs beschrieben. Sieben Abschnitte sind auf einzelne Themen fokussiert: auf die Mobilisierung, auf die taktischen und technischen Neuerungen der Kriegsführung, auf die Kriegswirtschaften, die diesen langen Kampf erst möglich machten, auf die moralische und die emotionale Seite des Konflikts. Ein Kapitel ist den Parallelkriegen gewidmet, ein weiteres hat die Kriegsverbrechen und Gräueltaten, die alles bis dato Bekannte übertrafen, zum Gegenstand.
Ein zweiter Dreissigjähriger Krieg
Der Zweite Weltkrieg war ein imperialer Krieg, ausgelöst durch die Ambitionen Deutschlands, Japans und Italiens, neue Reiche zu errichten. Unweigerlich gerieten diese Staaten mit den schon etablierten europäischen Imperien sowie mit den neuen Grossmächten USA und Sowjetunion aneinander. Ziel war eine neue Weltordnung unter der Hegemonie der Achsenmächte. Deren Niederlage 1945 läutete zugleich den Untergang der alten Kolonialimperien ein. Damit war der Zweite Weltkrieg der (vorerst) letzte imperiale Krieg. Dank der Dekolonialisierung entstand schliesslich die heutige Welt aus Nationalstaaten: Der Wandel, der 1945 eintrat, habe «den Territorialimperien» ein Ende gesetzt, schreibt Overy, «die mit unmittelbarer Unterjochung und dem Verlust der Souveränität der einheimischen Bevölkerung verbunden waren».
In der breiten Perspektive erscheinen der Erste und der Zweite Weltkrieg als zusammenhängender Grosskonflikt mit denselben Wurzeln und mehr oder weniger denselben Akteuren – gewissermassen als Etappen eines zweiten Dreissigjährigen Kriegs. Zu den zentralen Thesen Overys zählt, dass die übliche Chronologie des Zweiten Weltkriegs falsch ist: Dieser begann nicht erst mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen, sondern bereits im Jahr 1931 mit dem Einfall der kaiserlich-japanischen Armee in die Mandschurei.
Der Krieg setzte also in China ein, und die Kämpfe gingen auch nach der Kapitulation des Deutschen Reichs und Japans in China, in Südostasien, in Osteuropa und im Nahen Osten weiter, teilweise bis in die fünfziger Jahre. Zudem war der Krieg ein wirklich globaler. Zwar waren Europa und der pazifische Raum zentrale Schauplätze, doch wütete er überall: im Mittelmeerraum, in Nordafrika und im Nahen Osten, in Ost- und in Südostasien. Selbst einige Staaten in Lateinamerika wie Brasilien waren beteiligt.
Mit diesem globalgeschichtlichen Blick setzt sich Overy von der mancherorts immer noch gängigen eurozentristischen Verkürzung auf die Jahre 1939 bis 1945 ab. Allerdings war diese in Grossbritannien und in den USA wegen der enormen Bedeutung des Kriegs im Pazifik und in Asien ohnehin stets weniger verbreitet.
Overy streicht überdies heraus, dass der Zweite Weltkrieg nicht nur ein Krieg zwischen Staaten und deren Armeen war, sondern zugleich eine ganze Reihe von Bürgerkriegen und «Kriegen der Zivilisten» (Partisanenkriege) umfasste: in China, in der Ukraine, in Italien, in Griechenland oder auf dem Balkan. Die Bürger- und Partisanenkriege und Aufstände vermischten sich mit den Staatenkriegen, verliefen aber auch als «Parallelkriege» neben den Aktionen auf den Schlachtfeldern, wo die staatlich organisierten Armeen aufeinandertrafen.
Dieser globale Konflikt mobilisierte Millionen und Abermillionen von Menschen, zwang sie in die Kriegsmaschinerie hinein: Diese beherrschte alles, Wirtschaft wie Alltagsleben. Zudem verschwand in ihr die immer schon fragile Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten – Millionen Zivilist:innen fielen ihr zum Opfer.
Parallelen zur Gegenwart
Overys Darstellung verweist auf erschreckende Parallelen zu unserer aktuellen Situation. Die neoimperialen Mächte Deutschland, Italien und Japan führten damals einen grossen Krieg, weil sie die bestehende Weltordnung radikal ändern wollten. Heute ist es Wladimir Putins Russland, das eine neue Weltordnung erzwingen will, in der das alte grossrussische Reich wieder einen Platz als Weltmacht einnehmen soll. Wie die Achsenmächte damals betrachten Putin und seine Entourage Krieg als legitimes und letztlich einziges Mittel, um dieses Ziel zu erreichen.
Zugleich lassen sich aus Overys umfassender Darstellung Lehren ziehen: zum Beispiel, dass sich Angriffe neoimperialer Akteure nur schwer begrenzen lassen. Oder dass neoimperiale Aggressoren nicht einfach aufgeben, wenn sie auf dem Schlachtfeld Niederlagen erleiden: Sie müssen und sie werden weitermachen – bis zum bitteren Ende.