Sachbuch: Das Joch und das Patriarchat

Nr. 23 –

Zwischen populärwissenschaftlichen Effekten und intellektueller Redlichkeit: Karin Bojs’ neues Buch ist ein spannender Ritt durch die neuere archäologische Forschung.

Wandmalerei aus der Altsteinzeit
Wandmalerei aus vorpatriarchaler Zeit: Altsteinzeitliche Gemeinschaften von Jägerinnen und Sammlern waren zu klein, um komplexe Institutionen herauszubilden. Foto: Ullstein

Die Analyse autosomaler DNA, Zeiteinordnungen mittels C-14-Isotopen, die Untersuchung von Phytolithen durch Rastertunnelelektroskope – was klingt wie Raketenwissenschaft, gehört heute zum gängigen Rüstzeug archäologischer Forschung. Naturwissenschaftliche Methoden haben in den vergangenen Jahrzehnten ganze Wissensbestände zur Ur- und Frühgeschichte umgewälzt. Das betrifft auch einen Klassiker unter den Forschungsfragen: Wann und warum eigentlich entstand das Patriarchat?

Diese Problemstellung dient der Wissenschaftsjournalistin Karin Bojs als Aufhänger für ihr Buch «Mütter Europas. Die letzten 43 000 Jahre». In 24 Kapiteln beleuchtet die Autorin prägnant den aktuellen archäologischen Forschungsstand aus einer frauengeschichtlichen Perspektive. Bojs begrenzt sich bewusst auf den europäischen Raum, ihre Darstellung geht grösstenteils chronologisch vor entlang ur- und frühgeschichtlicher Migrationsbewegungen.

Dabei fördert Bojs auch Verwunderliches zutage – etwa dass Homo sapiens und Neandertaler Sex miteinander hatten: Gene, die mit unserem Immunsystem zu tun haben, zeugen davon. Oder dass Yoga aufgrund der Migration der Indoeuropäer:innen ursprünglich aus dem skandinavischen Raum stammen könnte.

Entstehung von Machtpositionen

Altsteinzeitliche Jägerinnen- und Sammlergemeinschaften waren der Autorin zufolge noch zu klein, als dass sich in ihnen eine komplexe Institution wie das Patriarchat hätte herausbilden können. Nach Bojs entstand dieses erst später, in zwei Schüben nach der Sesshaftwerdung. War die «alte Bauernkultur» Europas noch geschlechteregalitär organisiert – worauf unter anderem Venusfiguren und Wandmalereien hindeuten –, entwickelten sich in einer Mischkultur, die sich vor ungefähr 7000 Jahren von Paris aus über ganz Europa ausbreitete, patrilineare Abstammungslinien: Männer zeugten mit mehreren Frauen viele Kinder, Frauen mussten mit der Geschlechtsreife ihr Heim verlassen.

Bojs führt diese Männerdominanz auf die Entstehung von Machtpositionen in der Arbeitswelt zurück: Der Pflug, das Rad und das Joch hielten Einzug in die Landwirtschaft, die Kontrolle über Reichtum schaffende Handelsnetzwerke hierarchisierte Gesellschaften. Zwei Ochsen ins Joch zu spannen, ist körperlich schwere Arbeit, Praktiken der Kinderbetreuung (insbesondere das Stillen) lassen sich damit nur schwer vereinbaren. Auch langwierige Fernfahrten sind mit der Sorge um Kinder weit weniger kompatibel als etwa das Mahlen von Weizen oder das Bierbrauen – Arbeiten, die laut Bojs in der «alten Bauernkultur» auch von Frauen verrichtet wurden. Einen zweiten Schub erhielt das europäische Patriarchat dann um 3000 v. u. Z. mit der Einwanderung aus den Steppen des Ostens: Die indoeuropäischen Hirten- und Reitervölker mit ihren elitären Männerbünden verstärkten die vorgefundenen patriarchalen Strukturen noch.

Bojs’ Ritt durch die archäologische Forschung ist heiter und lehrreich. Stellenweise befremdet die Lektüre aber auch: Zum einen spitzt Bojs immer wieder zu und formuliert steile Thesen; so nennt sie das Ende der Eiszeit kurzerhand «die dramatischste Veränderung der Weltgeschichte». Zum anderen weist sie vielfach darauf hin, dass die spekulative Hypothesenbildung immer noch das wichtigste Geschäft von Archäolog:innen sei. Dass dabei der Spagat zwischen populärwissenschaftlicher Effekthascherei und intellektueller Redlichkeit nicht immer ganz einfach ist, merkt man auch Bojs’ Buch an.

Was wird überliefert?

Archäologische Forschungsergebnisse sind trotz aller methodischen Fortschritte mit Vorsicht zur Kenntnis zu nehmen. Bojs belegt dies selbst mit ihren Hinweisen auf die Überlieferungskontingenz. Zwei Beispiele: Die geläufige Periodisierung der Ur- und Frühgeschichte in Stein-, Bronze- und Eisenzeit hält Bojs für überholt. Diese Dreiteilung fokussiere zu stark auf Materialien, die persistent seien und auf Ausgrabungsstätten dementsprechend auch heute noch reichlich gefunden werden könnten. Materiell vergänglichere, aber ebenso lebenswichtige Materialien wie etwa Textilien hingegen seien für die gegenwärtige Archäologie noch immer viel schwerer zu fassen.

Das andere Beispiel ist das Vergessen der um 5000 v. u. Z. entstandenen, in Südosteuropa ansässigen Vinča-Kultur – für Bojs sogar die «Wiege der europäischen Zivilisation». Diese Kultur fristet in der öffentlichen Erinnerungskultur wohl deshalb ein Schattendasein, weil ihre Schrift – im Gegensatz etwa zu den ägyptischen Hieroglyphen – noch ihrer Decodierung harrt.

Letztlich plädiert Bojs für einen reflektierten Umgang mit der Ur- und Frühgeschichte, wie ihre Exkurse über politisch verdrehte Vereinnahmungen der Archäologie und der Epilog des Buchs zeigen. «Aus der Historie lernen ist eine Sache. Wie wir dann unsere Gegenwart und unsere Zukunft gestalten, ist eine ganz andere Geschichte», schreibt sie da – auch in Richtung der Geschichtspolitik heutiger Rechtsautoritärer.

Karin Bojs: «Mütter Europas. Die letzten 43 000 Jahre». Aus dem Schwedischen von Erik Glossmann. Verlag C. H. Beck. München 2024. 252 Seiten. 40 Franken.