Éric Hazan (1936–2024): Vom kommenden Aufstand
Als linksradikaler Verleger und Intellektueller schuf sich der französische Arzt und Autor Éric Hazan einen Namen. Seine Werke rund um das Thema Revolution inspirieren bis heute.
Von den grossen Boulevards und Plätzen durch die engen Gassen jenseits der touristischen Pfade, von den Faubourgs bis zum multikulturellen Zentrum der Metropole: Von all dem handelt «Die Erfindung von Paris», das mit über 600 Seiten wohl dickste und sicher auch erfolgreichste Buch von Éric Hazan. Darin durchstreift man die französische Hauptstadt zu Fuss und durchquert dabei gleichzeitig Epochen. Hazan gelingt es, Geschichte zum Leben zu erwecken. Trotz seines Umfangs besticht das Buch durch eine Leichtigkeit und Anschaulichkeit, dank der man die französische Hauptstadt komplett neu erfahren kann.
Die Entstehung von Paris wird als eine Reihe von Aufständen und Repressionen geschildert. Von den Revolutionen 1830 und 1848 über die Pariser Kommune von 1871 zu den Einflüssen der Kollaboration, der Befreiung 1944 sowie der kreativen Proteste des Mai 1968: Sie zeichnen die Geografie der Lichterstadt und sind für Hazan bis heute in ihrer Architektur und in der Haltung ihrer Menschen zu finden. Wer mit dem dicken Wälzer einen Streifzug durch das gegenwärtige Paris macht, wird einerseits an die Vergangenheit erinnert, entwirft aber vor dem inneren Auge auch das Bild einer Stadt in Bewegung und Veränderung.
Deserteure verarzten
Bewegung und Veränderung stehen sinnbildlich auch für Éric Hazan. Geboren wurde er 1936 in Paris just in der Woche, als die Spanische Revolution ausbrach, als Sohn einer staatenlosen Palästinenserin und eines ägyptischen Juden. Sein Vater war, wie er selbst, Verleger. Zunächst arbeitete Hazan indes als Herzchirurg, engagierte sich auch politisch. Während des Algerienkriegs stand er aufseiten der algerischen Freiheitsbewegung FLN und verarztete französische Deserteure. Später ging er inmitten des Krieges in den Libanon, um dort linken Palästinenser:innen als Arzt zur Seite zu stehen. Die Souveränität Palästinas wurde ihm zu einem Herzensanliegen.
Doch sollte die Welt der Bücher und der Geschichte sein Leben bestimmen. Nachdem er einen gut dotierten Arztjob an den Nagel gehängt hatte, gründete Hazan 1998 den Verlag Éditions La Fabrique und begann selbst zu schreiben. Die Ersparnisse aus seiner Arzttätigkeit erlaubten es ihm, den Verlag auf- und auszubauen. In den kommenden Jahren avancierte La Fabrique zum wohl einflussreichsten linksradikalen Verlag in Frankreich, dessen Bücher heute in allen wichtigen Buchhandlungen – egal ob links oder rechts – zu finden sind.
Nebst Werken von Enzo Traverso, Jacques Rancière, Silvia Federici oder Alain Badiou erregte vor allem die Herausgabe von «Der kommende Aufstand» 2009 grosse Aufmerksamkeit: 50 000 Exemplare wurden verkauft – nicht zuletzt, weil das französische Innenministerium unfreiwillig Werbung für das Buch machte. Nachdem eine Eisenbahnstrecke, auf der ein Castor-Transport geplant war, sabotiert worden war, glaubte es im Werk des «Unsichtbaren Komitees» ein «Handbuch des Terrorismus» zu erkennen, ein Beweisstück, das als Vorwand diente, um neun Menschen zum Teil monatelang zu inhaftieren.
Viele von Éric Hazans eigenen Büchern lesen sich wie Manifeste. In «Die Dynamik der Revolte» etwa beschäftigte er sich mit über 200 Jahren Revolutionsgeschichte und setzte sich auch mit möglichen kommenden Aufständen auseinander. Seine These lautete: Die wichtigsten sozialen Erhebungen entstanden nicht aufgrund einer fertigen politischen Theorie, sondern resultierten aus der Wut der Bevölkerung. Die Pariser Kommune von 1871? Sie folgte nicht dem Plan der «Internationale» um Marx, sondern war ein Kampf der Pariser Bevölkerung gegen die Belagerung der Stadt und für politische Selbstverwaltung. Die russische Revolution von 1917? Auch hier waren es die Männer und Frauen Petrograds, die für Frieden, Brot und ein Ende der zaristischen Unterdrückung auf die Strasse gingen – während die Bolschewiki um Lenin noch ihre Pläne schmiedeten. Damit ist «Die Dynamik der Revolte» auch ein lebendiger Quell an Lehren und Beispielen für die revolutionäre Gegenwart.
Für soziale Gerechtigkeit einstehen
Hazan, der auch als Übersetzer in Erscheinung trat und die Werke des Literaturtheoretikers Edward Said ins Französische übertrug, beschränkte sich jedoch nicht allein auf eine Rolle als schreibender Ratgeber für linke Politik. Er positionierte sich auch als Intellektueller immer wieder öffentlich. Als es in den französischen Banlieues 2005 zum Aufstand kam, stand er klar auf der Seite der rebellierenden Jugendlichen. Zudem forderte er 2015, als in Frankreich der Ausnahmezustand ausgerufen wurde, weiterhin vehement die Versammlungsfreiheit ein.
Immer wieder sprach sich Hazan gegen Rassismus und Antisemitismus aus und solidarisierte sich zuletzt noch mit den Gelbwesten. Sie waren für ihn die bislang letzte soziale Bewegung, die es vermochte, den Herrschenden wirklich Angst einzujagen, da sie die Frage der sozialen Gerechtigkeit in den Fokus gerückt hatte. Seine Stimme als Historiker und Beteiligter der radikalen Linken fehlt jetzt. Nach langer Krankheit ist Éric Hazan am 6. Juni mit 87 Jahren in Paris verstorben.