EU-Wahlen: Fiktionen statt Visionen
Eins ist nach den EU-Parlamentswahlen klar: Das Durchwursteln der grossen Mitte-Rechts-Links-Koalition wird weitergehen. Zusammen verfügen die Fraktionen der konservativen Europäischen Volkspartei, der liberalen Renew Europe Group und der Progressiven Allianz der Sozialdemokrat:innen weiterhin über eine satte Mehrheit von jetzt 400 der 720 Sitze. So wird das Parlament weiter eine restriktive Migrationspolitik verfolgen, die das Asylrecht zusehends aushöhlt und Tausende Tote auf den Fluchtrouten in Kauf nimmt; es wird nach wie vor die Fiktion aufrechterhalten, mit «freier Marktwirtschaft» bis 2050 klimaneutral sein zu können; und immerhin dürfte es, das zumindest ist zu hoffen, einigermassen solidarisch gegenüber der Ukraine auftreten, die unter tödlichem russischem Beschuss steht.
Mal mehr, mal weniger wird wohl auch weiterhin die Fraktion der grünen und der regionalistischen Parteien in diese Koalition eingebunden sein, die bei den Wahlen ein Viertel ihrer Sitze verlor, aber immer noch 53 Abgeordnete zählt. Die Parteien rechts aussen, die Rechtsradikalen und die Nationalist:innen, haben zwar dazugewonnen, sind aber in mehrere Fraktionen gespalten und haben, rein rechnerisch, wenig Einfluss.
So gesehen könnte man meinen, in Europa habe sich wenig verändert. Aber das stimmt nicht. In den beiden bevölkerungs- und einflussreichsten EU-Ländern, Deutschland und Frankreich, sind die Regierungsparteien dramatisch abgestraft worden, dort haben die rechtsextremen Parteien besonders stark zugelegt. In Frankreich könnte das rechtsextreme Rassemblement National von Marine Le Pen gar die jetzt ausgerufenen Neuwahlen gewinnen.
Die grosse Mehrheitskoalition im EU-Parlament, so ist zu befürchten, wird aus Angst vor den Rechtsextremen ihre Politik noch stärker nach rechts ausrichten. Nicht zuletzt für die Klimapolitik dürfte dies ernsthafte Konsequenzen haben. Nach den Parlamentswahlen von 2019 initiierte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen den European Green Deal, den sie als «Mondlandungsprojekt» der EU bezeichnete. Millionen Menschen in ganz Europa gingen damals auf die Strasse, um von ihren Regierungen einschneidende Klimamassnahmen zu fordern. Doch auch wenn ehrgeizige Reduktionsziele gesetzt wurden, viel Geld für Projekte gesprochen und etwa das Aus für Verbrennermotoren bis 2035 beschlossen wurde: Angesichts der Dimension der Klimakrise blieb der Deal zu wenig ambitioniert. Und seine Architekt:innen haben es verpasst, echte soziale Absicherungen einzubauen, um zu verhindern, dass Klimapolitik auf Kosten der ärmeren Bevölkerungsteile betrieben wird.
Mit dem Abflachen der Klimaproteste, der Covid-Pandemie und dem Krieg gegen die Ukraine begann rasch auch die Zeit der Abschwächung des Deals. Die europaweiten Bäuer:innenproteste Anfang dieses Jahres haben den Trend noch verstärkt; Vorhaben für eine ökologischere Landwirtschaft sind in der Folge geplatzt.
Es ist absehbar: Die EU und die Mehrheit in deren Parlament werden weiterhin behaupten, alles zu tun, um die eigenen Klimaziele zu erreichen. Doch der Graben zwischen Anspruch und Realität wird laufend tiefer. Eine solche Politik, das zeigt das Beispiel Deutschlands, wird das links-grüne Lager nur weiter demoralisieren – und die extreme Rechte stärken.
So zeigen diese Wahlen auch: Das europäische Projekt eines grünen Kapitalismus ist gescheitert. Eine liberale Wirtschaftspolitik mit echtem Klimaschutz zu verbinden, kann schlicht nicht funktionieren. Es wären viel grössere staatliche Interventionen und eine Umverteilung des Reichtums nötig – sprich: hohe Steuern für hohe Einkommen und Vermögen –, um die nötigen einschneidenden Klimaschutzmassnahmen sozialverträglich zu realisieren. Um das durchzusetzen, bräuchte es erneut Millionen Demonstrierende auf den Strassen. Und Parteien, die fähig sind, sich gemeinsam der Realität zu stellen.