Frankreich im Umbruch: Macron ringt um die Macht
Nach dem Sieg der extremen Rechten bei den Europawahlen hat Präsident Emmanuel Macron überraschend Neuwahlen angesetzt. Was, wenn Marine Le Pens Partei gewinnt?
Verzweiflungstat oder Taktik? Machtverfall oder Manöver? Emmanuel Macron gibt Rätsel auf. Als er am Sonntag, nur eine Stunde nach Schliessung der Wahllokale, völlig überraschend die Auflösung der Nationalversammlung und Neuwahlen ankündigte, überrumpelte Präsident Jupiter, wie sein Spitzname lautet, alle: seine Landsleute, die eigene Regierung, die politischen Gegner:innen und ganz Europa. Er könne sich, so Macron, mit dem Ergebnis, mit dem Sieg des Rassemblement National (RN), nicht abfinden. Knapp 32 Prozent holte die rechtspopulistische Le-Pen-Partei, die in Teilen rechtsextrem ist, angeführt von ihrem 28-jährigen Spitzenkandidaten Jordan Bardella – mit einem gigantischen Vorsprung auf Macrons Wahlbündnis (14,6 Prozent).
Jupiters Achillesferse
Jetzt brauche es Klarheit, sagte also Macron, und gemeint war: Es braucht Mehrheiten. Denn schon seit den Wahlen 2022 ist das Parlament seine Achillesferse.
Ohne eigene Stimmenüberzahl kann Macron nur ringen und nicht regieren. Für jedes Gesetzesvorhaben muss er mühsam Stimmen zusammenkratzen, mal im linken, mal im rechten Lager. Eine Schmach für den selbsterklärten Turboreformer. Da half bislang nur der unbeliebte Verfassungsartikel 49.3, eine Art Notstandsdekret, das der Regierung erlaubt, Reformen ohne Zustimmung des Parlaments durchzupeitschen. Macrons Expremierministerin, Élisabeth Borne, griff in anderthalb Regierungsjahren gleich 23 Mal zu diesem Mittel, das in einer Demokratie nur die Ausnahme, nicht die Regel sein sollte. Es war also durchaus folgerichtig, dass es über kurz oder lang zu Neuwahlen kommen würde. Aber warum jetzt? Warum so überhastet?
Macron hat die beiden Wahlrunden auf Ende Juni und Anfang Juli anberaumt – noch vor den Sommerferien. Ein Ziel könnte sein, den gegnerischen Lagern nur minimal Zeit zu lassen, um sich in Stellung zu bringen. Und tatsächlich dreht sich das Pariser Politikkarussell gerade schnell und chaotisch, fast im Minutentakt werden Koalitionen angekündigt, verworfen, beschworen und beendet. Unvorbereitet ist allerdings auch das Macron-Lager.
Marine Le Pen hatte noch am Wahlabend verkündet, ihre Leute stünden bereit, könnten sofort die Macht übernehmen, und Bardella inszeniert sich in den sozialen Medien bereits als zukünftiger Premierminister. Bei den Republikaner:innen ist ein interner Streit darüber ausgebrochen, ob man mit Bardella zusammengeht oder nicht. Das linke Lager aus Grünen, Sozialist:innen und Linkspopulist:innen hat zwar weniger als 24 Stunden nach Macrons Ankündigung die Bildung eines «Front populaire» verkündet und will mit Einheitslisten antreten. Doch die Halbwertszeit der Entscheidungen auf dem Pariser Politikparkett ist derzeit winzig.
Droht die «Cohabitation»?
Das Kalkül Macrons jedenfalls ist brandgefährlich: Auf dem Spiel steht das Herz der französischen Demokratie, die Assemblée. Würde der RN bei den Wahlen wieder so überragend siegen wie bei den Europawahlen, müsste die Partei eigentlich die nächste Premierminister:in stellen. Dann käme es zu einer «Cohabitation», in der Regierung und Präsident aus unterschiedlichen politischen Lagern stammen.
Dies könnte Macron einerseits nutzen, um die Rechten dauerhaft zu entzaubern. Andererseits nähme er damit zähe Monate, gar Jahre des politischen Stillstands in Kauf, die gerade vor dem Hintergrund der internationalen Krisen für Europa verheerend sein könnten. Denn wenn Frankreich als zweitgrösste europäische Volkswirtschaft de facto handlungsunfähig ist, würde ganz Europa in Mitleidenschaft gezogen, und im schlimmsten Fall könnten rechtspopulistische Bewegungen in anderen europäischen Ländern von einer Krisensituation profitieren.
Am 7. Juli, nach der zweiten Wahlrunde, wird man wissen, ob dieser rätselhafte Jupiter ein leichtsinniger Hasardeur oder ein brillanter Stratege ist.