Literatur: Die Welt gestalten

Nr. 25 –

Zwischen Sarajevo und Schanghai: Der neue Roman von Aleksandar Hemon spielt von 1914 bis 1949 und verwebt Szenen brutaler Grausamkeit mit Momenten voller Empathie und Liebe.

Als 1992 die von Serbien beherrschte jugoslawische Volksarmee Bosnien-Herzegowina fast zerstörte, weilte Aleksandar Hemon als Stipendiat in den USA – und blieb. Seit 1995 publiziert der bald sechzigjährige Autor auf Englisch. Seine vielfach ausgezeichneten Bücher wie «Nowhere Man» (2006), «Lazarus» (2008) oder «Meine Eltern. Alles nicht dein Eigen» (2021) thematisieren an eigenen und fremden Schicksalen die Traumata von Krieg, Vertreibung und Migration.

Hemons neues Buch «Die Welt und alles, was sie enthält» beginnt in seiner Geburtsstadt Sarajevo – allerdings im Juni 1914: Der sephardische Apotheker Rafael Pinto wird – nachdem er eben einen feschen K.-u.-k.-Rittmeister überraschend geküsst hat – Augenzeuge des Mordattentats auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand, das den Ersten Weltkrieg auslöst. Pinto wird eingezogen und an die Ostfront geschickt. Dort begegnet er dem stattlichen Osman Karišik, wie Pinto aus Sarajevo, und der Muslim und der Jude werden ein (heimliches) Liebespaar.

Bauchschuss, Herzschuss, Kopfschuss

Im Kanonenhagel der mörderischen Brussilow-Offensive der russischen Armee, im unsäglichen Gemetzel und gegenseitigen Abschlachten, bei Hunger, Kälte und Dreck wird ihr Überleben zur Lotterie, wie Hemon wortgewaltig schildert: «Pinto stolperte über einen Toten, der aussah wie Hauptmann Zuckermann, nur war der Unterleib zerfetzt; die Muskeln hatten sich im Tod verkrampft, die Eingeweide schwammen in Blut. Vermutlich war ein Schrapnell in den Rücken eingedrungen und hatte den Bauch aufgerissen. Bauchschuss – ein Wort, dessen Bedeutung Pinto schon während der ersten Woche in Serbien erfasst hatte. […] Es gab auch den Kopfschuss. Und den Herzschuss. Blum wurde durch einen Mundschuss getötet. Herrlich, dieses Deutsch. Alles liess sich darin zum Ausdruck bringen. Der Tod bringt es mit sich, dass man dem Sterben gegenüber abstumpft.»

Der Tod, das grosse Dunkel, «la gran eskuriad», wie es im Ladino, der Sprache der bosnischen Sephard:innen, heisst, ist über die 35 Jahre, die der Roman umfasst, omnipräsent. Osman und Pinto retten sich wiederholt gegenseitig das Leben, hadern mit dem Schöpfer und träumen dabei ihren Traum von der Rückkehr ins alte Sarajevo unentwegt weiter. Aus russischer Kriegsgefangenschaft werden sie nach Osten verschickt, sie desertieren, fliehen vor Bolschewiki und Kosaken, die wahllos alles, was lebt – auch Frauen und Kinder –, erschlagen, erstechen, erschiessen und jüdische Dörfer niederbrennen.

Aleksandar Hemon richtet mit grosser Kelle an: Er verwebt Szenen von bestialischer Brutalität mühelos mit herzzerreissenden Liebesszenen voller Wärme und selbstloser Empathie. Mit mal kantiger, mal lyrischer Sprache springt er zwischen Figuren und Zeiten hin und her und versammelt in seinem Gesamtkunstwerk wahrlich alles, «was die Welt enthält». Dazu zählen auch unübersetzte Einsprengsel aus Ladino, Bosnisch, Usbekisch und anderen Sprachen. Selbst wenn vieles weit weg vom 21. Jahrhundert scheint, dringt immer wieder die Aktualität durch den Text.

Durch die Wüste nach Schanghai

Schliesslich entkommen die beiden Protagonisten den Bürgerkriegswirren, auch dank der Unterstützung des britischen Spionageoffiziers Moser-Ethering, der sein reales Vorbild im britischen Offizier Frederick Bailey hat. Sie finden Unterschlupf bei einem jüdischen Spitalleiter in Taschkent.

Osman arbeitet mit den Bolschewiken und ihrer Geheimpolizei Tscheka zusammen. Nachdem er Klara, die Tochter des Gastgebers, geschwängert hat, kehrt er eines Tages nicht zurück. Hemon jedoch lässt Osman für Pinto (und die Lesenden) immer mal wieder zurückkehren zu imaginierten Zwiesprachen. Als Klara bei der Geburt ihres Kindes stirbt, übernimmt Pinto für die so zarte wie zähe Rahela Vater- und Mutterrolle: Über Monate hinweg trägt er die Kleine auf riskanter und extrem entbehrungsreicher Flucht durch endlose Wüsten bis zu den Uigur:innen und schliesslich nach Schanghai.

In der pulsierenden Metropole leben in den dreissiger Jahren eine grosse Anzahl von Geflüchteten. Pinto verfällt hier dem Opium, und Rahela, sechzehnjährig, verlässt ihn, heiratet einen etwas windigen US-Agenten. Als Maos Kommunisten 1949 vor der Machtübernahme stehen, will die schwangere Rahela den vom Opium vergifteten Pinto nach Sarajevo zurückbringen, doch auch dieser Plan scheitert, getreu der Logik der Vergeblichkeit, die das Buch bestimmt.

Ein nicht ganz überzeugender Epilog suggeriert, dass der Autor im Jahr 2001 die betagte Rahela bei einer Lesung in Jerusalem kennengelernt habe und so zu ihrer Geschichte gekommen sei. Ob das stimmt oder nur ein letzter Haken des raffinierten Fabulierers Hemon ist, bleibt offen. Gewiss ist: «Eine Welt ohne Geschichte könne es nicht geben», so Hemon in den Worten seines Erzählers. «Erst im Nachhinein würden jene, die einen Krieg erlebt hätten, derlei Tage zu einer Geschichtsschreibung verknüpfen.» Die Frage laute nur, so legt er ihm in den Mund, wer die Geschichte schreibe und die Welt damit gestalte.

Buchcover von «Die Welt und alles, was sie enthält»
Aleksandar Hemon: «Die Welt und alles, was sie enthält». Roman. Aus dem Amerikanischen von Henning Ahrens. Claassen Verlag. Berlin 2024. 395 Seiten. 37 Franken.