Literatur: Glühwürmchen statt Sternschnuppen

Nr. 26 –

Buchcover von «Die Arbeiter»
Martin Becker: «Die Arbeiter». Roman. Luchterhand Verlag. München 2024. 304 Seiten. 34 Franken.

Dass es in diesem Roman um Klassenverhältnisse geht, zeigt schon der Titel an. Die Mutter des Ich-Erzählers arbeitet in einer Wäscherei, der Vater nach einem Unfall unter Tage in einer Schmiede, die älteste Schwester ist behindert. Doch um Sozialrealismus handelt es sich beim Roman «Die Arbeiter» nicht. Martin Becker hat eine Familiengeschichte geschrieben und dafür nach eigenen sprachlichen Bildern gesucht. Die erlöschenden Glühwürmchen, die der Erzähler mit Sternschnuppen verwechselt, stehen exemplarisch für das verzweifelte Setzen auf eine bessere Zukunft.

Dass diese Geschichte einer letztlich doch recht durchschnittlichen Familie über 300 Seiten trägt, liegt nicht zuletzt an einer klugen Entscheidung des Autors: Der Roman kreist nicht um deprimierende Alltagserfahrungen, sondern wählt einen subtileren Zugang. Er geht von der Frage aus, warum der Ich-Erzähler als Einziger im Bekanntenkreis mit nicht einmal vierzig Jahren fast die gesamte Familie beerdigen musste. Sowohl die Eltern als auch seine älteste Schwester Lisbeth sterben nämlich viel zu früh. Kein Einzelschicksal: In Deutschland lebt das ärmste Fünftel im Durchschnitt zehn Jahre weniger lang als die Reichsten der Gesellschaft.

Dabei bleibt das Buch aber ganz bei seinen Figuren, die in aller Ambivalenz geschildert werden: liebenswert, aber despotisch; fürsorglich, aber doch auch beschränkt. Becker gelingt es gut, nebenbei immer wieder analytische Perspektiven zu eröffnen, ohne ins Referieren abzugleiten. Klassenherkunft erzählt er als ständige Unsicherheit: Was ist eine angemessene Kleidung, was die richtige Bemerkung?

«Die Arbeiter» ist aber auch ein Roman über alternde Eltern: Nach der Schwester wird auch die Mutter – viel zu früh – krank. Auf diese Weise wird der Blick von der Lohnarbeit auch noch auf die Care-Arbeit gelenkt – ein weiterer Aspekt sozialer Realität, der in der Literatur oft unterbelichtet bleibt. Ein vielschichtiger und kluger Text über Scham, Schuldgefühle, soziale Herkunft und die Komplexität familiärer Bindungen.