An der Grenze: Im Geist der Solidarität
Über eine halbe Million Menschen sind inzwischen aus der Ukraine nach Polen geflüchtet. Sie werden mit offenen Armen empfangen – doch die Frage bleibt, ob und wie lange die grosse Aufnahmebereitschaft anhält.
Noch vor zwei Wochen war Przemysl eine Stadt wie viele andere in Polen: 60 000 Einwohner:innen, abseits grosser Agglomerationen gelegen, reich an Kulturerbe, arm an Industrie. Doch ihre Besonderheit – die Nähe zur ukrainischen Grenze – hat die Stadt auf einen Schlag verändert.
Zehntausende Menschen kommen nun seit Beginn des Kriegs gegen die Ukraine über die zehn Kilometer entfernte Grenze in Medyka nach Przemysl. Am Tag sechs nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine ist die Stadt zu einem Drehkreuz für Flüchtende geworden – und für Heimkehrer wie Alex*. Der Ukrainer ist sichtlich verängstigt. Er hat ein Jahr lang in Polen und den Niederlanden gearbeitet. Nun sitzt er in einem Schnellbistro am Bahnhof und lädt sein Telefon für die letzte, die schwierigste Etappe seiner Reise: nach Oleksandrija, 300 Kilometer südöstlich von Kiew. Alex will zu seinen Eltern, er will nicht kämpfen. «Ich weiss nicht, was mich erwartet. Zurück, weg aus der Ukraine, kann ich dann jedenfalls nicht mehr», sagt Alex. Er blickt ratlos aus dem Fenster.
Draussen vor dem Bahnhof finden sich Hunderte Geflüchtete ein. Frauen, Kinder und Männer, die von dort kommen, wo Alex nun hinwill. Auch Umid steht dort, auf dem Arm hält er seinen acht Monate alten Sohn. Der Mann zählt zu jenen wenigen im wehrfähigen Alter bis sechzig, die nach Polen fliehen durften. Denn Umid ist Usbeke, er hat eine ukrainische Frau. Der Hauptgrund für die Flucht war, dass seine Frau schwanger ist und kurz vor der Entbindung steht.
«Gewalt bringt noch mehr Gewalt, das ist sicher», sagt Umid. «Wir sind vor zwei Tagen hier angekommen und wissen noch nicht, wo wir auf Dauer unterkommen.» Als er dies sagt, kommen zwei Helferinnen, eine Polin und eine Litauerin, die dem Mann und seiner Familie eine kostenlose Unterkunft in der hundert Kilometer westlich gelegenen Stadt Rzeszow anbieten. Umid will das mit seiner Frau besprechen. «Das alles, dieser Krieg, es könnte sich zu etwas noch Grösserem auswachsen. Es ist wie ein Beweis der Sünde, es ist Zeit, dass wir uns Gott zuwenden.»
Zehntausende helfen mit
So wie in Przemysl sehen nun Bahnhöfe grösserer Städte in ganz Polen aus: Freiwillige in gelben und orangen Westen, die Auskunft geben, trösten, Essen verteilen. Laut aktuellen Umfragen befürworten über 90 Prozent der Pol:innen, dass das Land Geflüchtete aus der Ukraine aufnimmt. 58 Prozent würden ausnahmslos alle aufnehmen, 34 Prozent zumindest diejenigen, die «am gefährdetsten sind».
Neben dieser allgemeinen Bereitschaft sind es dieser Tage wohl Zehntausende, die sich auch konkret engagieren. Im Verbandssitz der ukrainischen Minderheit in Przemysl – es sind Ukrainer:innen, die seit Generationen in Polen leben – unterstützt Anna die hier ankommenden Flüchtenden. Die fünfzigjährige Polin berichtet davon, dass sehr viele ihrer Landsleute helfen wollen. «Die Bereitschaft der Menschen ist grossartig. Mit der staatlichen Koordination sieht es schlechter aus», sagt Anna.
Damit bestätigt sie, was Expert:innen lange monierten und was für die nahe, dramatische Zukunft wenig Gutes verheisst. Das Land hat zwar in den letzten Jahren den Zugang der Ukrainer:innen und anderer Arbeitsmigrant:innen aus postsowjetischen Republiken wie Belarus und Armenien erleichtert. Anfang dieser Woche kündigte die rechtsnationale Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) zudem weitere Erleichterungen beim Zugang zum Arbeitsmarkt und auch zu Sozialleistungen für Familien an. Mit dem Weg über die Integration in den Arbeitsmarkt kaschiert sie jedoch die fehlende logistische und administrative Infrastruktur für die Aufnahme von Geflüchteten.
Bislang wird diese fehlende Vorbereitung staatlicher Stellen nicht nur durch einen Teil der bereits im Land lebenden rund 1,5 Millionen Ukrainer:innen kompensiert, die flüchtende Familien oder Bekannte bei sich in Polen aufnehmen. Auch polnische Bürger:innen bieten Hilfe und Unterkünfte an, etliche Organisationen tun ihr Möglichstes, um zu helfen – so auch der polnische Pfadfinderverband.
Filip ist einer dieser Pfadfinder. Der Neunzehnjährige ist 300 Kilometer aus dem Westen des Landes hierher angereist, um zu helfen: «Unsere Organisation sammelt im ganzen Land Spenden, und ein Teil von uns kommt eben hierher.» Menschen wie Filip machen keinen Unterschied zwischen den Ankommenden, ob nun ukrainisch oder anderer Nationalität. Gerade hilft er einem algerischen Studenten, der in Kiew studiert hatte. Auch sonst ist im aufgeregten Gedränge am Bahnhof nicht zu beobachten, dass jemand schlechter behandelt wird.
Doch dies ist offenbar nicht überall so. In den letzten Tagen gab es verschiedentlich Berichte über rassistische Diskriminierung an der Grenze. So berichteten etwa Student:innen aus afrikanischen Staaten, die ukrainische Universitäten besucht hatten, von den polnischen Grenzbehörden mitunter abgewiesen worden zu sein. Inzwischen hat sich der Ombudsmann für Bürgerrechte eingeschaltet und fordert vom Innenminister eine Klarstellung. Die polnischen Behörden hatten die Vorwürfe dementiert; alle aus der Ukraine kommenden Flüchtenden würden ins Land gelassen.
Rechte Hetze
In Przemysl sitzt derweil der nigerianische Student Tayo erschöpft am Rand des Bahnhofs. An der Grenze sei er nicht schlechter als die Ukrainer:innen behandelt worden, sagt er. «Doch ich habe, wie viele andere auch, bei der Flucht fast alles verloren. Wir haben zwanzig Stunden an der Grenze gestanden, und in dem Chaos ging mein Gepäck verloren. Zurück können wir nicht», sagt der 25-Jährige. «Ich weiss nicht, was ich tun soll.»
Zudem droht in Polen auch rassistische Gewalt auf der Strasse: In Przemysl wurde am Dienstagabend eine Gruppe Schwarzer Flüchtender von Rechtsradikalen angegriffen; die Polizei hat die Täter bislang nicht gefasst. Und auf lokalen Facebook-Gruppen wird bereits Stimmung gemacht: «Hast du eine Gruppe von Flüchtlingen gesehen, die nicht aus der Ukraine stammen, schreib uns, poste Fotos, warne andere», heisst es auf einem der Profile.
Auch jenseits rechtsradikaler Kreise könnte es mittelfristig dazu kommen, dass nichtweissen Geflüchteten, meist jungen Männern, in Polen rechte Hetze entgegenschlägt. Zumal die Regierung und ihre Medien zuletzt heftige diffamierende Propaganda gegen muslimische und afrikanische Flüchtende an der belarusischen Grenze befeuerten. Heute indes wolle Polen «allen Geschädigten helfen – Frauen, Kindern, allen», sagte Premierminister Mateusz Morawiecki am Montag.
Aber wie weiter?
Eine Gruppe Jugendlicher zieht im Zentrum von Przemysl durch die Strasse. Sie kommen von einer proukrainischen Manifestation, einer der Jungs trägt die ukrainische Fahne, als wäre es das Normalste auf der Welt. «Hauptmotto war: Putin raus aus der Ukraine», sagt der sechzehnjährige Tomek. Schulen wie jene von Tomek sind heute Schutzräume für Geflüchtete aus der Ukraine, die in den Schulhallen schlafen.
«Es sind Freiwillige, die sich der Situation angenommen haben», sagt Oksana Osieczko, die im Stadtzentrum ein Café betreibt und vor ein paar Tagen zwei ukrainische Frauen bei sich aufgenommen hat. «Unsere Stadt lebt mit dieser riesigen Aufgabe, ich bin schwer beeindruckt.» Doch die Aufgabe, sagt die Frau, sei eine langfristige. «Denn wir können hier an der Grenze helfen, Unternehmen im ganzen Land wollen Ukrainerinnen und Ukrainer einstellen, engagierte Menschen bieten zeitweilige Unterkünfte. Aber wie geht es weiter?»
Osieczko stellt die Frage, auf die momentan kaum jemand eine Antwort hat. «Ich hoffe nur», schreibt Zuzanna Dabrowska in der konservativen Tageszeitung «Rzeczpospolita», «dass diese Empathie angesichts der Tragödie in unseren nationalen Blutkreislauf übergeht, dass sie nie mehr zulässt, gleichgültig zu sein.»
* Die meisten Gesprächspartner:innen möchten ihren Nachnamen nicht nennen.