Bildungspolitik: Besser integrieren statt weniger

Nr. 27 –

Die FDP macht Stimmung gegen die integrative Schule. Dabei ist man sich in der Wissenschaft weitgehend einig: Es braucht mehr Durchmischung. Helfen soll ein Algorithmus.

Wenn die rechtsliberale FDP von Chancengerechtigkeit spricht, sollte man hellhörig werden. Parteipräsident Thierry Burkart sagte kürzlich in einem viel zitierten Interview im «Tages-Anzeiger» zur Schweizer Schulpolitik: «Die künstliche und sehr teure Gleichmacherei einer ausnahmslosen Integration nützt niemandem und untergräbt die Chancengerechtigkeit.» Die FDP, die im Wähler:innentief plötzlich die Bildungspolitik für sich entdeckt hat, schlägt eine Reform der Volksschule vor. Die integrative Schule sei gescheitert, so die Hauptanalyse. Man müsse wieder «back to the roots». Es brauche nicht für alle die gleiche, «sondern für jeden die richtige Schule». Weil sonst sowohl etwas lernschwächere als auch besonders lernstarke Kinder zu kurz kommen würden.

Die Forderungen fallen auf fruchtbaren Boden, weil an vielen Schulen aufgrund von Lehrer:innenmangel, Sparmassnahmen und gleichzeitig steigenden Ansprüchen an die Unterrichtenden tatsächlich Frust und Überforderung verbreitet sind. Doch sie entbehren erstens jeder wissenschaftlichen Grundlage und torpedieren zweitens eben gerade die Bemühungen um mehr Chancengerechtigkeit – wenn diese für alle Kinder gelten soll.

«Ein fataler Fehlschluss»

Studien, die sich mit der integrativen Schule auseinandergesetzt haben, kommen – wie mehrere Bildungsexpert:innen gegenüber der WOZ bestätigen – zum gleichen Schluss: Die integrative Schule nützt allen. Kinder, die mehr Förderung brauchen, profitieren vom Zusammensein mit lernstärkeren Kindern, sowohl was ihre soziale Entwicklung angeht als auch bei ihrer schulischen Leistung. Gleichzeitig hat der gemeinsame Unterricht leicht positive Auswirkungen auf das Sozialverhalten der anderen Kinder in der Klasse.

Eine entscheidende Erkenntnis der jüngsten Untersuchungen ist jedoch, dass es Kipppunkte gibt. Eine von Forschenden der Universitäten St. Gallen und Zürich durchgeführte Studie zur Wirkung der integrativen Schule, die mit dem Schweizer Preis für Bildungsforschung ausgezeichnet wurde, kommt zum Schluss: Ab einem Anteil von fünfzehn bis zwanzig Prozent Kindern mit besonderem Förderbedarf wirkt sich der integrative Unterricht leicht negativ auf die Leistungen der restlichen Kinder aus. Eine Studie des Zentrums für Demokratie Aarau kommt zu einem ähnlichen Schluss – sie unterscheidet jedoch zwischen Kindern mit dem erwähnten besonderen Förderbedarf aufgrund einer Diagnose wie etwa ADHS oder Autismus und solchen, die aufgrund ihres sozialen Hintergrunds und einer Fremdsprachigkeit «mehrfach benachteiligt» seien. Bei Letzteren liege die Grenze bei einem Anteil von dreissig bis vierzig Prozent.

Wird diese überschritten, zeigen sich gemäss beiden Studien insbesondere bei leistungsschwächeren Kindern leichte Leistungseinbussen. Beatrix Eugster, Professorin an der Universität St. Gallen und Mitverfasserin der ersten Studie, relativiert jedoch: «Man muss sich bewusst sein, dass es sich wirklich nicht um grosse Effekte handelt, sondern um minimal schlechtere Prüfungsresultate als in einer integrativen Klasse unterhalb des Kipppunkts, die sich auch kaum auf die Einteilung in die weiterführenden Schulen auswirken.» Und: «Wer deshalb behauptet, die integrative Schule sei gescheitert und mehr Separation für alle Kinder besser, zieht einen fatalen Fehlschluss.»

Nicht besser in Kleinklassen

Die FDP macht weder in ihrem Positionspapier noch auf Nachfrage klar, wie sie sich ihre postintegrative Schule vorstellt. Man habe bloss Leitlinien entwickelt, sagt Sprecher Arnaud Bonvin. Wie genau vorzugehen sei, müsse man von Kanton zu Kanton schauen. Klar ist jedoch, dass die Partei nicht «nur» auf jene Schüler:innen zielt, die aufgrund einer Diagnose schulisch besonders herausgefordert sind. Hält die FDP doch fest: «Vorhandene Schwächen» müssten wieder «individueller angegangen werden» und fremdsprachige Schüler:innen erst einmal in separaten Klassen die Landessprache lernen.

Genau da liege das Problem, sagt Beatrix Eugster: «Es gibt keinerlei wissenschaftliche Erkenntnisse, die nahelegen würden, dass Kinder in Kleinklassen besser gefördert würden, insbesondere wenn fremdsprachige Kinder mit lauter anderen fremdsprachigen Kindern den Unterricht besuchen.» Ausserdem wirke sich eine solche Segregation stigmatisierend auf die Betroffenen aus, «und die Schweiz hat sich in internationalen Abkommen dazu verpflichtet, Kinder integrativ zu beschulen».

Die Forderung vieler Bildungsexpert:innen lautet denn auch: Es brauche für das Funktionieren des integrativen Schulkonzepts nicht nur mehr Ressourcen, sondern vor allem auch ein bessere Durchmischung.

Der Soziologe Oliver Dlabač hat die Studie des Zentrums für Demokratie Aarau mitverfasst – und untersucht darin, wie sich die «Entmischung» zwischen Wohnquartieren, also die Konzentration verschiedener sozialer Schichten in unterschiedlichen Stadtquartieren, auf die Schulen auswirkt. Dlabač sagt: Dass manche Lehrer:innen überfordert seien, sei ernst zu nehmen. Doch die nun von vielen Gegner:innen der integrativen Schule ins Feld geführte Behauptung, das Modell stosse überall an seine Grenzen, sei schlicht falsch. «In den für die Studie untersuchten Städten Lausanne, Bern, Basel und Zürich hat sich gezeigt, dass die Schulen im Mittel weit weg vom Kipppunkt sind, während ihn ein kleiner Teil überschreitet. Es gäbe also ein grosses Durchmischungspotenzial, das jedoch kaum genutzt wird.»

Positiv bewertete Unterschiede

Dlabač hat aufgrund solcher Erkenntnisse ein Computerprogramm entwickelt, das Städten, aber auch kleineren Gemeinden helfen soll, bereits bei den Zuteilungen zu den Schulstandorten ausgewogene Zusammensetzungen sicherzustellen. Das System berücksichtigt ergänzend zu schuleigenen Daten insbesondere auch Daten zum Armutsrisiko je nach Wohnort. Aufgrund dieser Daten ermittelt ein Algorithmus Vorschläge für die jährlich notwendige Anpassung der schulischen Einzugsgebiete. Dabei schlage das Programm flexiblere Lösungen vor als die oft sture Aufteilung der Quartiere auf einzelne Schulhäuser auf dem Reissbrett, «ohne dass jedoch unzumutbare Schulwege entstehen», sagt Dlabač. Auch innerhalb des Schulhauses schlage das Tool ausgewogene Zuteilungen vor, damit sich in einer Klasse nicht zu viele herausfordernde Schüler:innen konzentrierten.

Während Dübendorf sowie einzelne Stadtkreise in Zürich das Programm noch testen, ist Uster die einzige Schweizer Gemeinde, die bereits mit dieser computergestützten Einteilung arbeitet. Patricia Bernet, Primarschulpräsidentin der Stadt, sagt, man habe es erst zweimal punktuell und parallel zum herkömmlichen Verfahren eingesetzt und deshalb noch keine gesicherten Erkenntnisse zu den Auswirkungen. «Doch in einer Klasse mit deutlich weniger fremdsprachigen Kindern wurde der Unterschied positiv bewertet.»

Auch Bernet hält den FDP-Vorschlag, wieder mehr zu separieren, für verfehlt. Es brauche vielmehr eine Weiterentwicklung der integrativen Schule: «Noch weniger Frontalunterricht, stufenübergreifende Projekte und mehr Teamarbeit zwischen Lehrer:innen und anderen an der Schule tätigen Berufsgruppen.» Letztlich gehe es um eine Haltungsfrage. «Es gehören alle dazu. Das müssen wir wirklich wollen. Dann gelingt es auch.»

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Kommentare

Kommentar von Igarulo

Do., 04.07.2024 - 11:09

Das Problem in der integrierten Schule sind nicht die Schüler, die ein bisschen mehr Förderbedarf brauchen oder in Deutsch gestützt werden müssen, sondern diejenigen Kinder, die mit Messer drohen, die plötzlich im Schulzimmer umher rennen, die schreien oder sich total verweigern.