Joe Biden unter Druck: Symptom eines überholten Systems
Auch das liberale Establishment scheint langsam zu begreifen, wie katastrophal Bidens Wahlkampf ist. Aber wie konnten weite Teile seiner Partei die Zeichen der Zeit so lange ignorieren?
Es war im Jahr 1979, als Joe Biden, damals ein junger und bissiger US-Senator aus Delaware, vor rund 200 Student:innen der University of Alabama eine Rede mit folgenden Worten einleitete: «Ich weiss, ihr seid alle gekommen, weil ihr gehört habt, wie grossartig ich bin.» Das Publikum lachte zunächst nervös, verunsichert von Bidens Humor. «Es stimmt – ich bin bekannt als jemand, der das Zeug zum Präsidenten hat», fuhr er fort. Am Ende seines Auftritts, so erzählt es der Journalist George Packer in seinem preisgekrönten Buch «Die Abwicklung», habe Biden grossen Applaus bekommen. Sein Überselbstbewusstsein kam zumindest bei diesem Publikum gut an.
Man sollte Bidens frühes Machtstreben im Kopf behalten, wenn man die gegenwärtige politische Situation in den USA betrachtet, die so düster erscheint wie lange nicht mehr. Man sollte nicht vergessen, dass dieser Mann bereits 1988 und 2008 Präsident werden wollte und dass er trotz zweier erfolgloser Wahlkämpfe im Jahr 2020 ein drittes Mal antrat, offenbar getrieben von der Idee, dass er ins Weisse Haus gehört. So gesehen ist Bidens derzeitiges Festhalten an seinem Posten fast schon wieder logisch.
Bidens Wahlkampf ist eine Katastrophe – das scheinen nun langsam auch die Letzten, also das liberale Establishment, zu verstehen. Beim TV-Duell mit Donald Trump Ende Juni verhaspelte sich der 81-jährige Biden immer wieder, starrte mit offenem Mund ins Leere und konnte kaum zwei kohärente Sätze nacheinander von sich geben, geschweige denn eine überzeugende politische Vision vermitteln. Seither sind die Rufe nach einem Rückzug so laut wie nie.
Das Editorial Board der «New York Times», eine Gruppe von Kolumnist:innen, die die Werte der Zeitung repräsentieren, schrieb: «Um seinem Land zu dienen, sollte Präsident Biden aus dem Rennen aussteigen.» David Remnick, Chefredaktor des Magazins «The New Yorker», erklärte, Bidens Kandidatur sei «nicht nur ein Akt der Selbsttäuschung, sondern auch eine Gefährdung der Nation». Mit Reed Hastings, dem Gründer von Netflix, und Disney-Erbin Abigail Disney haben sich in den vergangenen Wochen auch zwei einflussreiche Geldgeber:innen von Biden distanziert.
Diesen zunehmenden Druck von aussen kann die Partei nicht mehr ignorieren. Verschiedene demokratische Abgeordnete wie Lloyd Doggett (Texas) oder Jerry Nadler (New York) haben öffentlich an Biden appelliert, Platz zu machen. Besser spät als nie, liesse sich nun grosszügig feststellen. Andererseits: Wie konnten diese Leute die Zeichen der Zeit so lange ignorieren?
Ein gigantischer Ballast
Während Trumps engstes Team, die Republikanische Partei und andere rechte Organisationen wie die Heritage Foundation an der faschistoiden Zukunft feilen und das allgemeine Stimmungsbild derzeit auf einen Sieg Trumps hinweist, breitet sich hinter den Kulissen der Demokratischen Partei mit verheerender Verspätung Panik aus. Biden wiederum scheint bei aller offensichtlichen Verwirrung an einer Sache unbeirrt festzuhalten: der Überzeugung, dass er – und nur er – Trump schlagen kann. In einem Interview ein paar Tage nach der TV-Debatte sagte der US-Präsident, einzig «der allmächtige Gott» könne ihn zur Aufgabe bringen. Was wohl beschwichtigend gemeint war, kam vielmehr wie eine absolutistische Drohung daher.
Konnte Biden noch vor vier Jahren gegen Trump triumphieren, ist er für die Demokrat:innen längst ein gigantischer Ballast. Das macht auch ein Blick in die einzelnen Bundesstaaten deutlich, wo viele der demokratischen Kandidat:innen für den US-Senat in Umfragen beliebter sind als er. Die Wähler:innen machen in der Bewertung der politischen Kräfte also zweifellos Unterschiede. Sie wissen, wem sie trauen und wem nicht. Biden antwortete auf die zunehmenden Zweifel am Montag mit einem offenen Brief, in dem er seine Parteikolleg:innen zu geschlossener Unterstützung aufrief. Die demokratische Basis habe sich in den Vorwahlen für ihn entschieden, so Biden. «Sagen wir jetzt einfach, dass dieser Prozess keine Rolle gespielt hat? Dass die Wähler:innen kein Mitspracherecht haben?»
Fahl und unglaubwürdig
Die demokratischen Vorwahlen, die zwischen Januar und Juni stattfanden, waren allerdings nie ein offener Wettbewerb, weil klar war, dass sich niemand aus der eigenen Partei gegen den amtierenden Präsidenten stellt, zumindest kein:e ernst zu nehmende:r Kandidat:in. Bidens Nominierung, die beim Parteitag Mitte August in Chicago finalisiert werden soll, war von Anfang an eine ausgemachte Sache. Dabei zeigen Umfragen seit vielen Monaten, dass sich nicht nur die Mehrheit der Bevölkerung, sondern auch ein enormer Anteil der demokratischen Basis jemand anderen an der Spitze wünscht. 47 Prozent der befragten Demokrat:innen gaben Anfang Juli den Wunsch an, dass Biden Platz machen solle.
Wenn der US-Präsident ins Leere starrt, lässt sich das also auch als Sinnbild für den Zustand der ganzen Partei verstehen, die kraftlos, unbeweglich und entfremdet von ihren eigenen Wähler:innen wirkt. Grundsätzlich kann man infrage stellen, ob die Democrats überhaupt eine Partei sind, sprich: eine Organisation, in der die Mitglieder wirkliches Mitspracherecht haben und sich auf lokaler Basis einbringen können. Viel häufiger erscheint das Ganze wie eine Spendengenerierungsmaschine, geleitet von Funktionär:innen, die niemand kennt, und Politiker:innen, die kaum jemand wirklich mag. Die antidemokratischen Elemente der Demokrat:innen sind auch einer der Hauptgründe, warum die «Save Democracy»-Botschaften gegen Trump oft so fahl und unglaubwürdig wirken.
Visionen? Fehlanzeige
Bidens Schwäche ist in vieler Hinsicht das Symptom eines überholten und überalterten politischen Systems. Die Macht in den USA konzentriert sich nicht nur bei wenigen Menschen, sondern bei wenigen alten und reichen Menschen, was die Idee einer repräsentativen Demokratie zur Farce macht. In den wichtigsten Institutionen, vom US-Senat bis zum Supreme Court, kleben Amtsträger:innen immer wieder bis zum Tod an ihren Posten; im Fall der liberalen, 2020 verstorbenen Richterin Ruth Bader Ginsburg mit der Folge, dass Präsident Trump sie durch die erzkonservative Juristin Amy Coney Barrett ersetzen konnte. Hätte sich Ginsburg – wie von vielen gefordert – früher für einen Rücktritt entschieden, stünde das Machtverhältnis am Obersten Gericht heute weniger deutlich zugunsten der Rechten. Ginsburgs Festhalten am Amt bestimmte ihr berufliches Erbe. Bei Biden könnte es ähnlich laufen.
Doch was würde eigentlich passieren, wenn sich Biden doch noch zurückzöge? Im Raum stehen Namen wie Gavin Newsom, Gouverneur von Kalifornien, Gretchen Whitmer, Gouverneurin von Michigan, und Ex-First-Lady Michelle Obama. Am wahrscheinlichsten aber wäre es, dass Vizepräsidentin Kamala Harris, die nicht weniger unbeliebt ist als Biden, nominiert werden würde. Was die kognitive Tauglichkeit betrifft, wäre jede dieser Personen ein Fortschritt. Programmatisch unterscheiden sie sich wenig. Auffällig ist, dass keine:r der gehandelten Nachfolger:innen wirklich hervorsticht, weder durch mitreissende Kommunikation noch durch inhaltliche Visionen.