Philosophie: Sozialismus, aber mit Moral

Nr. 28 –

Nach dem grossen Erfolg ihrer autobiografischen Erzählung «Frei» versucht sich die albanische Theoretikerin Lea Ypi an der Zusammenführung von Marx und Kant.

Portraitfoto von Lea Ypi
«Eine kritische Einstellung gegenüber autoritären Machtpositionen ist extrem wichtig – egal ob sie sozialistisch, liberal oder auf andere Weise daherkommen»: Lea Ypi. Foto: Leonardo Cendamo, Getty

«Für mich hat sich ein Kreis geschlossen», heisst es gegen Ende der autobiografischen Erzählung «Frei», mit der die albanisch-britische Wissenschaftlerin Lea Ypi 2023 im deutschsprachigen Raum bekannt wurde. «Meine Welt ist so weit von der Freiheit entfernt wie die, aus der meine Eltern entkommen wollten.» In ihrem Buch erzählt die heute 44-jährige Ypi von ihrer Kindheit und Jugend in Albanien während der Wendejahre. Das sozialistische System brach zusammen, die Marktwirtschaft wurde eingeführt, doch die grossen Wohlstandsversprechen wurden nicht eingelöst.

Grosser Andrang in Berlin

Das kleine Land auf dem Balkan wurde von einer schweren Finanzkrise erschüttert, das Bildungssystem kollabierte. Ein Grossteil der Bevölkerung wanderte aus, viele wurden an der EU-Aussengrenze gestoppt. 1997 wurde ein albanisches Flüchtlingsschiff beim Versuch, nach Italien zu gelangen, von der italienischen Küstenwache gerammt, achtzig Menschen ertranken. Obwohl Albanien als einer der autoritärsten Staaten Europas galt, erzählt Ypi in «Frei» alles andere als begeistert von ihrer persönlichen Wendeerfahrung.

Doch in Berlin ist sie in diesen Wochen nicht als Erzählerin unterwegs. Die Wissenschaftlerin, die Anfang der 2000er Jahre Philosophie, Literatur und Journalismus in Italien studierte und seit 2013 an der London School of Economics Politikwissenschaften unterrichtet, hält auf Einladung des Centre for Social Critique die sogenannten Walter Benjamin Lectures. Bei ihren Vorlesungen zum «Moralischen Sozialismus» ist der unweit von Kanzleramt und Fanmeile gelegene Hörsaal an drei Abenden hintereinander mit tausend Zuhörer:innen fast bis auf den letzten Platz besetzt. Sehr methodisch hangelt sich Ypi an drei, wie sie es nennt, «kantianischen Fragen» entlang. An diesem Abend geht es um das Problem der eigenen Verantwortung. Die Frage, was jede:r Einzelne tun könne, erklärt die Philosophin, sei nur kollektiv zu beantworten.

Unser individuelles Leben sei von strukturellen Verhältnissen bestimmt. Für einen Moment lässt Ypi Kant beiseite und erzählt in einer Anekdote von einem albanischen Oligarchen, der sich beklagte, wie sehr seine ökonomischen Entscheidungen von den Konkurrenzverhältnissen auf dem Markt determiniert seien. Die Menschen lebten in sehr ungleichen Verhältnissen, aber sie alle würden ein zutiefst fremdbestimmtes Leben führen, resümiert Ypi. Ihre Vorlesung zielt darauf ab, die Moralphilosophie Kants mit marxistischer Analyse zu verbinden. Thematisch ist das von ihrem Bestseller «Frei» gar nicht weit entfernt. Aber wenn man nur dieses Buch gelesen hat, kann man es kaum glauben: Von der Schriftstellerin Ypi ist an diesem Abend wenig zu spüren. Nach der Anekdote wird es schnell wieder theoretisch.

Grenzen unseres Wissens

Im Interview in einer Neuköllner Kneipe antwortet Ypi auf die Frage, wie sie die Brücke zwischen Literatur und Wissenschaft schlage, sehr routiniert – offensichtlich will man das regelmässig von ihr wissen. Auf den ersten Blick seien ihre beiden letzten Bücher wirklich sehr verschieden, sagt sie: «In ‹Die Architektonik der Vernunft› geht es darum, wie sich die Begrenztheit unseres Wissens mit praktischem Handeln vereinbaren lässt. Es ist ein Buch über Kants Kritische Theorie, in dem ich nach einer radikaleren Interpretation von Aufklärung suche.» In «Frei» hingegen bringe sie unterschiedliche Traditionen eines Freiheitsverständnisses in Verbindung: «Die liberale, die sich vor allem auf politische Freiheiten bezieht, und die sozialistische, die Freiheit als Ausweitung sozialer Rechte versteht.» Kant und Marx – für Ypi eine produktive Verbindung: «Mir geht es um eine Kapitalismuskritik, die über die moralische Legitimation einer Alternative nachdenkt.»

Und wie kam sie als Wissenschaftlerin darauf, einen Erzähltext zu schreiben? Das sei Zufall gewesen, erläutert Ypi. «Ich war während der Pandemie in Berlin. Eigentlich hatte ich das Buch als theoretische Abhandlung geplant. Aber wegen des Lockdowns waren alle Einrichtungen geschlossen, und ich musste mit meinen Kindern daheimbleiben.» Zu Hause eingesperrt, habe sie angefangen, über die Freiheit zu schreiben, und eine Brücke zwischen Theorie und persönlichen Erfahrungen geschlagen.

Unter osteuropäischen Intellektuellen gibt es nicht allzu viele, die sich als Kritiker:innen der Marktgesellschaft hervortun. Anders aber Ypi. «Die 1990er Jahre waren für uns in Albanien eine Zeit des dramatischen Niedergangs», sagt sie und verweist auf Massenarbeitslosigkeit, Verelendung, Kriminalität und die Behandlung durch den Westen. «Europa pflegt von sich das Bild eines Kontinents, der seine liberalen Werte verteidigt. Doch die Erfahrungen der Auswander:innen hatten damit nichts zu tun.» Die liberale Erzählung von der geglückten Integration autoritärer Gesellschaften in die freie Welt habe mit der Realität der Albaner:innen wenig zu tun gehabt.

Ypi spricht in verdichteten, häufig fast druckreifen Sätzen. Der abschweifende, anekdotenhafte Erzählton, wie ihn viele männliche Professoren bei Interviews pflegen, ist ihr fremd. Vielleicht liegt es daran, dass sie die Uhrzeit und den nächsten Termin bereits im Blick hat.

«Für jemanden wie mich, die den dogmatischen Marxismus erlebt hat, ist eine kritische Einstellung gegenüber autoritären Machtpositionen extrem wichtig – egal ob sie sozialistisch, liberal oder auf andere Weise daherkommen», erläutert sie ihr theoretisches Programm. «Doch wenn man jede Form von Autorität zurückgewiesen hat, braucht man etwas anderes. Man will ja nicht mit der reinen Skepsis zurückbleiben, nach dem Motto: Alles ist möglich, alles ist relativ. Man benötigt Kriterien.»

Für Ypi ist das nicht nur eine philosophische Frage, sondern auch eine dringliche politische Aufgabe. Den Aufstieg des Faschismus in Europa hält sie für eng verknüpft mit der Krise des liberalen Projekts. «Wir müssen Alternativen zum Kapitalismus entwickeln», sagt sie und klingt auf einmal gar nicht mehr wie eine Kantianerin. «Ansonsten werden wir in den Zyklen der Marktgesellschaft gefangen bleiben. Die Krisen der liberalen Institutionen hängen eng mit Boom und Crash der Märkte zusammen. Wenn wir aus diesem Kreislauf ausbrechen wollen, brauchen wir eine Alternative zum Liberalismus wie auch zum Autoritarismus.»

Die Spur des Austromarxismus

Dass die Linke, anders als die extreme Rechte, nicht von der Krise der bürgerlichen Institutionen profitiere, erklärt Ypi mit politischen Fehlentscheidungen der Vergangenheit. «Die Linke», sagt sie und dürfte damit vor allem die sozialdemokratischen Parteien meinen, «hat das Projekt universeller Befreiung aufgegeben und sich stattdessen für die Reform des liberalen Staates entschieden. Sie ist eine Stimme der Institutionen geworden.» Was stattdessen benötigt werde, sei eine grosse und zeitgemässe Gegentheorie zu den bestehenden Verhältnissen.

Ganz so radikal, wie das auf den ersten Blick scheint, meint Ypi es denn aber auch wieder nicht. Als historischen Bezugspunkt führt sie den Austromarxismus an, wie er von österreichischen Politikern wie Otto Bauer und Max Adler Anfang des 20. Jahrhunderts geprägt wurde. Der Austromarxismus, für den Kant auch schon ein wichtiger Bezugspunkt war, sei mit den Verhältnissen unversöhnlicher gewesen als die deutsche Sozialdemokratie, sagt sie, gleichzeitig aber den liberalen Freiheitsvorstellungen verpflichtet geblieben. Ein kosmopolitisches Freiheitsprojekt der sozialen Gleichheit – so könnte man das Vorhaben wohl umschreiben, das Ypi umtreibt. Als Theoretikerin und als Erzählerin.