Reform der 2. Säule: Diese Rechnung geht nicht auf
Die BVG-Reform, die im September zur Abstimmung kommt, will den Umwandlungssatz senken – dafür sollen Geringverdiener:innen besser abgesichert werden. Doch die Vorlage ist ein Flickwerk.
Die Schweizer Politik neigt zu fast religiöser Ehrfurcht, wenn es um die Bewahrung von Einrichtungen geht, die längst aus der Zeit gefallen sind: Die Schuldenbremse ist eine davon – und das Dreisäulensystem.
So nennt sich das System, womit hierzulande das Rentner:innendasein finanziell abgesichert sein soll. Die ersten beiden Säulen – Alters- und Hinterbliebenenversicherung (AHV) sowie die Pensionskassen (BVG) – sind obligatorisch; die dritte, privat Angespartes, ist freiwillig.
Die erste Säule reicht kaum jemandem zum Leben – auch nicht mit der baldigen Einführung der 13. AHV-Rente. Umso tragender müsste also die zweite Säule sein. Zusammen mit dem Geld aus der AHV soll sie laut Verfassung garantieren, dass allen «die Weiterführung des gewohnten Lebensstils» möglich ist.
Dem steht jedoch die Profitorientierung der Finanzindustrie entgegen, die die hiesige Rentenpolitik seit der Einführung der obligatorischen beruflichen Vorsorge (BVG) im Jahr 1987 prägt, mit der das Dreisäulensystem installiert wurde. So verbuchten die Versicherungskonzerne in den vergangenen zwanzig Jahren dank der treuen Unterstützung ihrer parlamentarischen Lobby aus dem Anlegen der Pensionskassengelder satte neun Milliarden Franken Gewinn.
Viele Frauen gingen leer aus
Die zweite Säule kennt bis heute keine Geschlechtergerechtigkeit. Das Vorsorgewerk ist an die Erwerbstätigkeit gebunden – und wurde zu einer Zeit gegründet, als ein grosser Teil der Frauen, die damals ins Pensionsalter kamen, nicht über mehrere Jahrzehnte erwerbstätig gewesen waren. Viele gingen in der zweiten Säule mehr oder weniger leer aus.
Inzwischen haben sich die Verhältnisse insofern verbessert, als immer mehr Frauen zu immer mehr Stellenprozenten erwerbstätig sind. Aber längst noch nicht so weit, dass sie für die gleiche Arbeit gleich viel Geld bekommen wie Männer. Umso bemerkenswerter war der Kompromiss, zu dem sich Gewerkschaften und Arbeitgeberverband für eine Rentenreform durchgerungen hatten, die 2017 zur Abstimmung kam. Auch jene Vorlage war kein Coup – insgesamt aber hätte sie die Renten der Frauen und derer mit tieferen Einkommen verbessert. Gescheitert ist sie nicht zuletzt, weil ein Teil der Linken die damit verbundene Rentenaltererhöhung der Frauen auf 65 Jahre ablehnte – die heute trotzdem Tatsache ist.
So kommt nun eine Vorlage zur Abstimmung, die nicht nur aus feministischer Sicht noch schlechter ist. Für den Bundesrat ist die Reform nötig, «damit die künftigen Renten der obligatorischen beruflichen Vorsorge wieder ausreichend und langfristig finanziert sind». Dazu soll der Umwandlungssatz von 6,8 auf 6 Prozent gesenkt werden. Bei einem Altersguthaben von 100 000 Franken erhielte man pro Jahr statt wie bisher 6800 also nur noch 6000 Franken.
Dabei wurde der Umwandlungssatz bereits in den letzten Jahren stark gesenkt. Wer heute pensioniert wird, erhält im Schnitt eine um 300 Franken tiefere Rente als eine Person, die vor fünfzehn Jahren in Rente ging. Damals begründeten die Pensionskassen die Senkung mit den tiefen Zinsen. Nun aber sind die Tiefzinsjahre vorbei – den Pensionskassen geht es blendend, ihre Reservekanister sind voll.
Was bringen Ausgleichsmassnahmen?
Die Vorlage gibt vor, die erneute Senkung mit «Ausgleichsmassnahmen» zu kompensieren. Ob diese eine Kürzung der Renten verhindern würden, ist allerdings unsicher. Selbst das Bundesamt für Sozialversicherungen räumt ein, dass «die Reform in gewissen Fällen zu tieferen Renten führen» könnte.
Schon der Effekt der ersten Ausgleichsmassnahme ist unklar: Die Befürworter:innen behaupten, dass mit der Senkung der Eintrittsschwelle zur Versicherung von 22 050 auf 19 845 Franken, die man bei einem einzelnen Betrieb jährlich verdient, die Situation von Geringverdienenden verbessert würde. Demnach würden «schätzungsweise 70 000 Personen zusätzlich in der zweiten Säule versichert sein». So meint auch die bürgerliche Frauenorganisation Alliance F, damit würde ein Teil der Geschlechterungerechtigkeit behoben, da aufgrund der ungleichen Verteilung der unbezahlten Care-Arbeit überwiegend Frauen in tiefen Pensen, mehreren Jobs oder zu sehr tiefen Löhnen arbeiteten. Die Gewerkschaften dagegen weisen darauf hin, dass auch damit viele Mehrfachbeschäftigte keinen Pensionskassenanschluss hätten. Neunzig Prozent aller Pensionskassen haben diese Massnahme zudem bereits realisiert – trotzdem ist die Rentenlücke der Frauen unverändert hoch.
Auch die Wirkung der zweiten Ausgleichsmassnahme ist umstritten: Bislang ist in der zweiten Säule nicht der volle Lohn versichert, sondern es wird ein bestimmter Betrag abgezogen. Heute beträgt dieser Koordinationsabzug 25 725 Franken (für tiefe Einkommen gibt es eine Spezialregel). Die Vorlage sieht vor, dass stattdessen künftig zwanzig Prozent von jedem Lohn abgezogen werden. Damit wäre insbesondere bei tiefen Löhnen ein deutlich grösserer Teil des Lohns versichert. Die Befürworter:innen behaupten, dass dadurch auch die Rente von Geringverdienenden deutlich höher ausfallen würde. Doch wer weiss schon, was für eine Rente eine heute dreissigjährige Coiffeuse im Jahr 2060 erhalten wird? Noch fragwürdiger ist die Massnahme aber aus einem anderen Grund: Gerade weil Geringverdienende auf einen höheren Teil ihres Lohns Beiträge zahlen müssten, würde ihr Nettolohn sinken – ohne Garantie für eine höhere Rente.
Als weitere Massnahme sieht die Vorlage einen Rentenzuschlag von maximal 200 Franken pro Monat für eine Übergangsgeneration vor. Dies, weil für Personen, die in den fünfzehn Jahren nach Inkrafttreten der Reform pensioniert werden, das Altersguthaben den tieferen Umwandlungssatz bis zur Pensionierung nicht ausgleichen würde. Da aber nur Renten bis tausend Franken voll geschützt wären, würden mindestens die Hälfte dieser Personen keinen solchen Zuschlag erhalten.
Auch eine «Anpassung der Altersgutschriften» würde kaum etwas bringen. Damit will die Vorlage den Nachteil lindern, den ältere Semester auf dem Arbeitsmarkt haben können, weil mit zunehmenden Alter auch die Beiträge von Arbeitgeber:innen steigen. Zum einen jedoch kennt ein Teil der Pensionskassen bereits heute altersunabhängige Beiträge – und zum anderen kommt die Anpassung nicht jener Altersklasse zugute, deren Beiträge besonders stark steigen.
Weitere Ausgleichsmassnahmen gibt es nicht. Keine Betreuungsgutschriften für unbezahlte Arbeit – nicht mal einen Teuerungsausgleich.
Spekulationen und Glaubenssätze
Fazit: Die Reformvorlage ist ein Flickwerk – so weltfremd, kompliziert und spekulativ, dass selbst das Bundesamt für Sozialversicherungen die Frage nach den effektiven Auswirkungen nicht genau beantworten kann. Sogar wenn die Behauptung stimmen würde, dass 85 Prozent der Versicherten nicht direkt von der Reform betroffen wären – allein schon die Wahrscheinlichkeit, dass 15 Prozent mehr bezahlen und weniger erhalten würden, ist unerträglich. Noch unappetitlicher wird die Vorlage dadurch, dass sie ausgerechnet jene zusätzlich belasten könnte, die schon jetzt unter der Ungerechtigkeit der zweiten Säule leiden: Care-Arbeiter:innen, alleinerziehende Mütter, schlecht bezahlte Teilzeitangestellte, Geringverdienende in der Gastronomie, auf dem Bau oder in der Reinigung.
Die Rechnung geht auf – aber nur für den Finanzmarkt und die Versicherungskonzerne.
Kommentare
Kommentar von WV.
Fr., 12.07.2024 - 11:23
Bittere Realität, die Renten sind schon gesunken!!
Wird bewusst verschwiegen von den Befürwortern! Unehrliche Polik verkompliziert alles bewusst, damit sind Abstimmende manipulierbar!
Dasselbe im Gesundheitswesen!