BVG-Abstimmung: «Das freut die Finanzindustrie»
Als Journalist hat Danny Schlumpf das System der beruflichen Vorsorge (BVG), die Politik und die Finanzindustrie scharf kritisiert. Obschon er inzwischen die Seiten gewechselt hat und als CEO im Vorsorgebereich selber Teil des Systems ist, lehnt er die aktuelle BVG-Reform ab.
WOZ: Herr Schlumpf, vor zwei Jahren übten Sie in Ihrem Buch «Das Rentendebakel» harte Kritik daran, wie die Politik und die Finanzindustrie mit den Vorsorgegeldern der Versicherten hantieren. Jetzt sind Sie als Geschäftsführer eines Finanzdienstleisters selber Teil des BVG-Systems. Haben Sie sich kaufen lassen?
Danny Schlumpf: Geld hat bei meinem Branchenwechsel keine Rolle gespielt. Neugier und der Anspruch, es besser zu machen, gaben den Ausschlag für diese spannende Herausforderung. Meine Perspektive auf diesen riesigen Anlagemarkt im Umfang von 1200 Milliarden Franken hat sich deswegen nicht geändert. Die Frage lautet: Wie geschäften wir als Anbieter im Vorsorgebereich, damit möglichst viel bei den Versicherten bleibt?
Da sind wir aber gespannt.
Wie Mario Nottaris und ich bei unserer Recherche festgestellt haben, fliessen zu hohe Gebühren und versteckte Transaktionskosten an die Finanzindustrie, die das Vermögen der Pensionskassen und damit der Versicherten verwaltet. Banken, Versicherungen und andere Vermögensverwalter erheben einen fixen Prozentsatz auf das Anlagevermögen. Steigt das Vermögen, steigen die Gebühren – und das völlig leistungsunabhängig. Das widerspricht jeder Marktlogik. Dieses Geld fehlt den Versicherten. Hier lässt sich rasch etwas bewegen. Der Finanzdienstleister, bei dem ich arbeite, hat ein neues Gebührenmodell eingeführt. Es ist gestuft und gedeckelt. Nur die effektiven Vermögensverwaltungskosten werden in Rechnung gestellt. Damit bleibt mehr für die Versicherten übrig.
Was halten Sie von der BVG-Reform, die in rund zwei Wochen zur Abstimmung kommt?
Sie ist abzulehnen. Die Reform führt zu höheren Lohnbeiträgen – und für viele Versicherte zu sinkenden Renten. Die Vorlage ist total überfrachtet und hat zahlreiche widersprüchliche Elemente. Ihre Folgen sind unberechenbar.
Können Sie das konkretisieren?
Die Reform soll mehr Menschen mit tiefen Einkommen einen Zugang zur zweiten Säule ermöglichen. Doch die Senkung der Eintrittsschwelle hat gerade einmal 70 000 neue Versicherte zur Folge. Das wären 1,3 Prozent mehr Versicherte als heute. Und was genau haben sie davon? Sie zahlen mehr ein, doch weil viele von ihnen auf Ergänzungsleistungen angewiesen sind, haben sie am Ende nicht mehr Rente auf dem Konto. Die Veränderung des Koordinationsabzugs wiederum hat zur Folge, dass mehr Versicherte mehr einzahlen. Doch die Glättung der Beitragssätze zugunsten der älteren Angestellten wirkt in die entgegengesetzte Richtung. Hinzu kommen die Rentenzuschläge, deren Umsetzung völlig unklar ist. In Kombination mit der Senkung des Umwandlungssatzes bilden diese Elemente ein Flickwerk, das für die Leute kaum zu durchschauen ist. Deshalb ist die Vorlage auch eine demokratiepolitische Zumutung.
Die Befürworter:innen sagen, die Senkung des Umwandlungssatzes tangiere all jene im Überobligatorium nicht, also eine Mehrheit von siebzig Prozent.
Das ist eine irreführende Behauptung. Wir alle haben einen obligatorischen Teil Altersguthaben, der sich aus den Einzahlungen des obligatorisch versicherten Jahreslohns bis 88 200 Franken ergibt – auch diejenigen, die dank höherer Löhne zusätzlich überobligatorisches Kapital ansparen. Die Senkung des Umwandlungssatzes beim obligatorischen Teil bedeutet eine Senkung der gesetzlichen Mindestrente. Diese Mindestrente schützt auch Versicherte mit überobligatorischem Altersguthaben. Und das ist nötig, weil die Pensionskassen schon längst einen übergreifenden Umwandlungssatz anwenden, der heute bei durchschnittlich 5,3 Prozent liegt. Eine Senkung des Umwandlungssatzes im Obligatorium gibt den Pensionskassen neuen Spielraum, den übergreifenden Umwandlungssatz weiter zu senken. Und davon sind alle Versicherten betroffen.
Die Befürworter:innen sagen, wir müssten den Gürtel enger schnallen, sonst breche das System zusammen.
Bereits 2010 hiess es, eine Senkung des Umwandlungssatzes sei unumgänglich, sonst würden die Pensionskassen bald Defizite in Milliardenhöhe schreiben. Trotzdem stimmte das Volk dagegen. Damals hatten die Pensionskassen Reserven von 50 Milliarden Franken. Heute sind es 150 Milliarden. Natürlich macht es Sinn, dass Pensionskassen vorausschauend agieren. Aber diese Geschichte zeigt eben auch, auf wessen Kosten das System stabilisiert wird: Seit 2002 sind die Pensionskassenrenten um 40 Prozent gesunken, die Lohnbeiträge sind seit 2015 um 15 Prozent gestiegen. Und die Gebühren, die die Vorsorgeversicherten an Banken und Versicherungen abliefern, haben sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt.
Die Volksvertreter:innen in Bern scheint das nicht zu kümmern. Die «Gürtel enger schnallen»-Metapher zielt nur auf die Versicherten. Die Einkünfte der Finanzindustrie haben sie nie angerührt.
Viele Parlamentsmitglieder verdienen am System mit, in Form gut bezahlter Mandate in Verwaltungs- und Stiftungsräten. Sie kennen das BVG-System und haben entsprechenden Einfluss in ihren Fraktionen. Und sie haben kein Interesse daran, dass sich an der Asymmetrie zwischen Finanzdienstleistern und Versicherten etwas ändert. Die Linken kämpfen seit Jahren erfolglos gegen diese Lobby an.
In Ihrem Buch «Das Rentendebakel» kritisierten Sie 2022, dass neben den damals ausgewiesenen sechs bis sieben Milliarden Franken Anlagekosten weitere verdeckte Transaktionskosten von zwölf Milliarden Franken pro Jahr in die Taschen der Finanzindustrie flössen – insgesamt fast so viel wie eine Jahresrente aller Versicherten, nämlich zwanzig Milliarden Franken. Wie kamen Sie auf diese Zahl?
Die zwölf Milliarden Franken basieren auf einer konservativen Schätzung; wir haben dafür ein Prozent des gesamten Pensionskassenvermögens veranschlagt. Dabei handelt es sich vor allem um Transaktionskosten. Solche Kosten fallen an, wenn beispielsweise Aktien gehandelt oder Immobilien verkauft werden. Das Problem: Diese Kosten werden den Versicherten gegenüber nicht transparent offengelegt.
Selbst Alt-SP-Nationalrat Rudolf Strahm, ebenfalls ein erklärter Gegner der Vorlage, hat Sie deswegen kritisiert. Sie hätten dafür keinerlei Belege.
So ist das mit versteckten Zahlen: Man kann sie nur schätzen. Ruedi Strahm und ich sind uns einig bei den ausgewiesenen Vermögensverwaltungskosten – allein diese aktuell über acht Milliarden Franken pro Jahr fallen um mindestens zwei Milliarden zu hoch aus. Mario Nottaris und ich haben unsere Schätzung zu den versteckten Kosten damals Kadern von Grossbanken und Versicherungen vorgelegt. Einige von ihnen haben uns «off the record» gesagt, diese Zahl sei noch viel zu niedrig. Offiziell wurden wir von der Branche und ihren politischen Vertretern natürlich kritisiert; unsere Schätzung sei viel zu hoch. Dabei wäre es ganz einfach: Würde die Branche die versteckten Kosten offenlegen, wüssten wir, wie hoch diese tatsächlich sind.
Sie postulieren eine passive Anlagestrategie. Sie sagen, hätte man in den letzten 25 Jahren eine solche Strategie verfolgt, lägen heute 150 Milliarden mehr auf den Konten der Versicherten. Erklären Sie das.
Bis heute wird das BVG-Kapital überwiegend aktiv angelegt: Spezialisten beobachten die Finanzmärkte, analysieren, recherchieren und kreieren ständig neue Anlagelösungen. Und das ist teuer. Geld lässt sich aber auch passiv investieren. In diesem Fall wird es so angelegt, dass es einem Börsenindex folgt. Das funktioniert im Wesentlichen automatisch. Der Aufwand ist erheblich geringer, wodurch auch viel weniger Gebühren anfallen. So macht es zum Beispiel der norwegische Staatsfonds. Dieser staatliche Pensionsfonds investiert passiv. Mit umgerechnet rund 1,5 Billionen Schweizer Franken ist er vergleichbar mit dem Schweizer Pensionskassentopf. Aber er performt deutlich besser: In den vergangenen zehn Jahren hat er im Schnitt eine Jahresrendite von sieben Prozent erwirtschaftet. Diese Rendite ist doppelt so hoch wie diejenige, die im gleichen Zeitraum mit den Pensionskassengeldern in der Schweiz erwirtschaftet wurde. Und die Gebühren in der Schweiz sind zehnmal höher als diejenigen in Norwegen. Deshalb plädiere ich dafür, das passive Anlegen massiv auszubauen – im Sinne der Versicherten.
Weshalb kann sich die Finanzindustrie an unseren Pensionskassengeldern bereichern?
Kapitalistische Unternehmen maximieren ihre Profite im Rahmen der Grenzen, die der Staat ihnen setzt. Daran ist nichts Verwerfliches. Das Problem in der zweiten Säule ist, dass der Staat den Finanzunternehmen ein Sozialwerk mit Zwangsversicherten überlässt, ohne das System sauber zu regulieren. So sind Sammelstiftungen, denen mittlerweile drei Viertel der Versicherten angeschlossen sind, bis heute gesetzlich kaum erfasst. Banken und Versicherungen gründen solche Stiftungen, um Geld zu verdienen, und können dabei äusserst freihändig agieren. Wir reden also über einen Markt, in dem sich Zwangskunden ohne Wahlfreiheit mit Anbietern konfrontiert sehen, denen der Staat das Feld überlässt. Davon können Anbieter in anderen Märkten nur träumen.
Angenommen, die BVG-Vorlage wird im September abgelehnt: Wie sähe denn eine Reform im Sinne der Versicherten aus?
Bis heute dominiert die Frage: Wie eng müssen die Versicherten den Gürtel schnallen, damit das System überlebt? Eine richtige Reform wechselt die Perspektive und schaut auf die Finanzbranche, die das Vorsorgevermögen verwaltet. Und stellt die Frage: Was müssen die Anbieter ändern, damit das System im Sinne der Versicherten funktioniert? Je grösser der Pensionskassentopf wird, desto mehr Gebühren fliessen an die Vermögensverwalter ab. Bei Annahme der Reform zahlen die Versicherten zusätzliche zwei Milliarden Franken pro Jahr ein. Das freut die Finanzindustrie. Doch wenn es dieses zusätzliche Geld wirklich zur Sicherung der Renten braucht, wie die Reformbefürworter im Parlament sagen, dann könnten die gleichen Politiker auch einfach dafür sorgen, dass pro Jahr zwei Milliarden Franken weniger Gebühren abfliessen. Der Effekt wäre der gleiche. Doch die Mehrheit des Parlaments hat kein Interesse daran. Eine Veränderung gibt es nur, wenn die Bevölkerung das Heft in die Hand nimmt. Mit einer Initiative zum Beispiel.
Danny Schlumpf (45) ist CEO des Finanzdienstleisters Admicasa Management AG und Geschäftsführer bei der Anlagestiftung Terra Helvetica. Bis letzten Herbst arbeitete Schlumpf als Journalist für den «SonntagsBlick». Vor zwei Jahren publizierte er gemeinsam mit dem SRF-Journalisten Mario Nottaris das Buch «Das Rentendebakel» (Rotpunktverlag), das aufzeigt, wie Politik und Finanzindustrie unsere Vorsorge verspielen.