Eskalation im Nahen Osten: Das egomanische Spiel Netanjahus

Nr. 32 –

Am Dienstag stürzte ein Schwarm von Angriffsdrohnen auf den Norden Israels herab. Doch das sei noch nicht der Vergeltungsschlag, den Israel erwarte, beeilte sich die vom Iran gelenkte Hisbollah zu erklären, die die Drohnen losgeschickt hatte. Eine knappe Woche nachdem in kurz aufeinanderfolgenden Schlägen erst der Hisbollah-Kommandeur Fouad Schukr in Beirut und dann der Hamas-Politbürochef Ismail Hanija in Teheran gezielt getötet wurden, hält der Nahe Osten also weiter den Atem an – und mit ihm die ganze Welt.

Fluggesellschaften stellen Flüge ein, die Aussenministerien vieler Länder bereiten sich auf Evakuierungen ihrer Staatsbürger:innen aus der Region vor. Die Protestbewegung auf den israelischen Strassen gleicht einem Kassandraruf. Die extrem rechte Netanjahu-Regierung ignoriert sie.

Die Strategie, die der opportunistische Regierungschef Israels verfolgt, läuft auf eine Verschärfung der Situation hinaus: Einen palästinensischen Staat will er nach wie vor mit aller Macht verhindern; die Verhandlungen über einen Waffenstillstand und die Freilassung der israelischen Geiseln hat er immer wieder erschwert, selbst als die Hamas relevante Zugeständnisse machte. Auch israelische Geheimdienstchefs werfen ihm nun vor, die Verhandlungen hinauszuzögern.

Um sich vor einem drohenden Gefängnisaufenthalt wegen Korruption zu retten, nimmt Netanjahu die Zerstörung der Demokratie genauso in Kauf, wie er die Sicherheit des Landes gefährdet und die überlebenswichtige Allianz mit den USA aufs Spiel setzt. Joe Biden hält zwar immer noch schützend die Hand über Israel. Doch zuletzt soll er «Verarsch mich nicht!» in den Telefonhörer gezischt haben, als Netanjahu ihm weismachen wollte, es gebe Fortschritte in den Verhandlungen mit der Hamas.

Die gezielten Tötungen sind in erster Linie als Machtdemonstration zu deuten. Die Hamas und die Hisbollah dürften dadurch nicht geschwächt, sondern weiter radikalisiert werden. Das verdeutlicht die Wahl des Hardliners Jahja Sinwar zum Nachfolger von Ismail Hanija am Dienstag. Würde Netanjahu auch nur einen Funken seiner gedanklichen Energie den Geiseln widmen – einen schlechteren Zeitpunkt für die Tötungen hätte er nicht wählen können, zumal Hanija im Hamas-Politbüro diejenigen vertrat, die auf eine Einigung drängten.

Die Folgen sind noch schwer abzusehen. Am vergangenen Montag traf der ranghöchste für den Nahen Osten zuständige US-General in Israel ein, um den erwarteten Vergeltungsschlag und Verteidigungsstrategien zu besprechen. Gleichzeitig reiste der Sekretär des russischen Sicherheitsrats in den Iran. Russland hat einem Bericht der «New York Times» zufolge, der sich auf hochrangige iranische Quellen beruft, damit begonnen, Luftverteidigungs- und Radargeräte an den Iran zu liefern.

Ob das Interesse des Gottesstaats an einem offenen Krieg mit Israel derzeit gross ist, ist aber nach wie vor fraglich. Möglicherweise wird der Vergeltungsschlag ähnlich wie im vergangenen April ausfallen, als das Land zum ersten Mal mehr als 300 Drohnen und Raketen auf Israel abgeschossen hat. Möglich ist aber auch, dass er koordiniert ausfallen wird: Die Huthi im Jemen sowie proiranische Gruppen in Syrien und im Irak könnten sich daran beteiligen. Angesichts der geografischen Nähe blicken die meisten Israelis vor allem auf das grosse Arsenal der vom Iran gelenkten libanesischen Hisbollah. Die Hamas wiederum ist derzeit militärisch zu geschwächt, um grosse Angriffe durchführen zu können.

Für Israel wäre es wichtig, seine bereits existierenden Partnerschaften im Nahen Osten, wie die mit Jordanien und Ägypten, zu stärken, statt sie zu gefährden, und möglichen neuen Friedensabkommen den Weg zu bereiten, statt sie zu sabotieren, allen voran mit Saudi-Arabien. Mit seinem egomanischen Spiel treibt Benjamin Netanjahu stattdessen Israel noch näher an den Abgrund.