Gefangen in Serbien: «Kämpft die Demokratie jetzt auch für mich?»
Dem Aktivisten Andrei Gnyot droht in Serbien die Auslieferung nach Belarus. In einer kleinen Belgrader Wohnung kämpft er um seine Freiheit.
Als Andrei Gnyot am 30. Oktober 2023 nach Belgrad flog, rechnete er nicht damit, verhaftet zu werden. «Hätte ich etwas geahnt, wäre ich nicht eingereist.»
Mittlerweile sitzt der 42-jährige Filmemacher und Aktivist seit über drei Monaten in Hausarrest. Davor war er sieben Monate und sechs Tage lang im Gefängnis. An seinem linken Fuss ist eine elektronische Fessel angebracht. Er trägt kurze Hosen, Adidas-Schlappen und ein dunkles T-Shirt, auf dem in weiss umrandeten Lettern «Truth» steht – Wahrheit.
Mindestens 23 Stunden am Tag verbringt er in einer Einzimmerwohnung; zwölf Quadratmeter gross ist der Raum, dazu eine kleine Küche, ein kleines Bad, ein kleiner Flur.
Der wütende Lukaschenka
Als Gnyot in Belgrad landet – er wollte hier einen Werbefilm drehen –, informieren ihn die Beamten, dass bei Interpol ein internationaler Haftbefehl gegen ihn vorliege, ausgestellt von seinem Heimatland Belarus. Der Vorwurf: Steuerhinterziehung.
Gnyot sagt, er werde aus anderen Gründen von Belarus verfolgt. Er ist Mitbegründer von SOS BY, einem Netz von Sportler:innen, die gegen das Regime von Aljaksandr Lukaschenka protestieren. Vor vier Jahren wendete sich SOS BY an das Internationale Olympische Komitee (IOK), worauf der nationale IOK-Präsident in Belarus, Diktator Lukaschenka höchstpersönlich, abgesetzt wurde. Gnyot sagt: «Lukaschenka war schon da sehr sauer.»
Doch damit nicht genug: Mitte Januar 2021 entzog der Eishockeyweltverband IIHF Belarus die Eishockey-WM der Männer. Kurz davor hatte René Fasel, der damalige Schweizer IIHF-Verbandspräsident, Lukaschenka noch in Minsk besucht, ihn umarmt und später in einem Interview gesagt, er wisse nicht, ob es politische Gefangene in Belarus gebe. Neben einem Brief von SOS BY an Fasel dürfte auch die Drohung eines Rückzugs des Hauptsponsors Škoda eine Rolle dabei gespielt haben, keine WM-Spiele in Belarus stattfinden zu lassen.
Oppositionelle in Serbien
Über 200 000 russische und Zehntausende belarusische Staatsbürger:innen sollen in Serbien leben – darunter viele Regimegegner:innen. Seit zwei Jahren häufen sich Repressionen. Drei Beispiele sind Elena Koposowa, Jewgeni Irzhanski und Peter Nikitin.
Die Übersetzerin Koposowa wurde vom Innenministerium angewiesen, Serbien innerhalb von dreissig Tagen zu verlassen, weil sie ein «untragbares Sicherheitsrisiko» darstelle. Sie vermutet als Grund einen Brief, den sie im März 2022 gegen den russischen Angriffskrieg unterschrieb. Nach Protesten darf sie vorerst in Serbien bleiben.
Dem Konzertveranstalter Jewgeni Irzhanski wurde die Aufenthaltserlaubnis entzogen, nachdem er Antikriegskonzerte in Belgrad organisiert hatte. Bei einem Verhör wurde angedeutet, er werde als «Sicherheitsrisiko» gesehen. Irzhanski hat das Land inzwischen verlassen.
Dem Friedensaktivisten Peter Nikitin wurde derweil im Auftrag des serbischen Geheimdienstes die Einreise verweigert – obwohl er gültige Papiere hat und seine Familie im Land ist. Inzwischen durfte er wieder einreisen.
Gnyot ist überzeugt, dass ihn dieses Engagement auf die Abschussliste des Regimes gebracht hat. «Lukaschenka ist grosser Eishockeyfan und wollte diese WM wirklich sehr.» Das Komitee für Staatssicherheit der Republik Belarus – das den Namen KGB beibehalten hat – lud Gnyot nach der WM-Absage zu einer Anhörung vor. «Meine Anwälte sagten mir, ich hätte nur noch ein paar Stunden, um das Land zu verlassen, sonst würde ich festgenommen.»
Er packte daraufhin schnell eine Tasche und verschwand nach Moskau. Von dort floh er nach wenigen Monaten weiter nach Thailand – wegen der politischen Lage und der Aggression gegen die Ukraine. Derweil wurde SOS BY in Belarus zu einer extremistischen Organisation erklärt. «Damit war ich dreifacher Extremist», sagt Gnyot. Zuvor hatte er als Journalist für Radio Free Europe und den Fernsehsender Current Time TV gearbeitet, die vom Regime ebenfalls als extremistisch eingestuft werden.
Wenn man verstehen möchte, wie Andrei Gnyot zum politischen Gefangenen in Serbien werden konnte, hilft es, einen Blick auf die serbische Aussenpolitik zu werfen.
Aleksandar Vučić, Serbiens Präsident, betreibt eine Schaukelpolitik zwischen Ost und West. Er prahlt mit seinen guten Kontakten zu Wladimir Putin und lässt Munition an die Ukraine liefern. Serbien ist EU-Beitrittskandidat, erlässt aber keine Sanktionen gegen Russland. Die EU ist mit Abstand wichtigster Handelspartner, doch regierungsnahe Medien berichten vor allem über Projekte mit China.
Ein Ergebnis dieser Politik ist regelmässiger hoher Besuch: Im Mai kam Xi Jinping, im Juli Olaf Scholz und im August Emmanuel Macron nach Belgrad – bemerkenswert für ein Land mit weniger als sieben Millionen Einwohner:innen. Kritische Worte äusserte öffentlich keiner der Gäste.
Auch die Beziehungen zu Belarus sind von dieser Politik bestimmt. Grundsätzlich sind sie gut. Belarus erkennt den Kosovo nicht an und stimmte im Mai als einer von nur neunzehn Staaten gegen eine Uno-Resolution für die Einführung eines Srebrenica-Gedenktags – ganz im Interesse der Belgrader Machthaber:innen.
Doch Serbiens Freundschaft zu Belarus kennt Grenzen. Nach dem Aufstand in Belarus 2020 unterstützte Serbien – für viele überraschend – eine EU-Erklärung, die die dortigen Wahlen als «weder frei noch fair» einstufte. Nachdem die belarusischen Behörden im Mai 2021 einen Ryanair-Flieger zur Landung gezwungen hatten, um Oppositionelle zu kidnappen, verhängte Serbien sogar Sanktionen.
Das Nawalny-T-Shirt und der Spion
«Es ist eine verdammte Schande», sagt Peter Nikitin. Der 43-jährige Russe sitzt im Buchladencafé Dobar Dabar, einem von vielen russischen Geschäften, die seit dem Februar 2022 in Belgrad aus dem Boden schiessen. Er trägt ein weisses T-Shirt, auf dem der ermordete Oppositionsführer Alexei Nawalny abgebildet ist, darunter dessen Worte «Russland wird glücklich sein».
Nikitin hat kein Verständnis dafür, dass aus der EU so wenig öffentliche Kritik an der Verhaftung Andrei Gnyots durch Serbien geäussert wird. «Es ist scheinheilig. Europa tut nicht das, was es predigt, sondern verschliesst die Augen.»
Nikitin gründete die Russian Democratic Society (RDS) in Belgrad und organisierte Proteste gegen den Angriffskrieg auf die Ukraine. Auch für Gnyot setzt er sich ein. Im kollektiv betriebenen Café Dobar Dabar treffen sich regelmässig Menschen, um Briefe an Gefangene zu schreiben. Er hält sich gerne hier auf.
Aber der Druck auf ihn und andere russische Oppositionelle nimmt zu; mehrere Mitstreiter:innen mussten Serbien mittlerweile verlassen. Verantwortlich dafür ist laut Nikitin vor allem ein Mann: Aleksandar Vulin, Vizeregierungschef der serbischen Regierung. «Vulin ist ein russischer Spion», sagt Nikitin.
Tatsächlich liess der Vizepremier, der davor Chef des serbischen Geheimdiensts war, Russ:innen in Belgrad abhören und schickte die Transkripte nach Moskau – was dort laut Aussage des russischen Oppositionellen Wladimir Kara-Mursa zur Verhaftung von Menschen führte. Als kürzlich öffentlich wurde, dass Vulin Feindeslisten erstellen liess, kommentierte der Vizepremier dies öffentlich mit den Worten: «Es tut mir nur leid, wie viel Abschaum zu Unrecht vergessen wurde.» Vulin wird zudem vorgeworfen, in den Drogenhandel verstrickt zu sein – er steht deswegen auf der Sanktionsliste der USA. «Mit so einem Vizepremier ist es kein Wunder, dass sie Andrei festhalten», sagt Nikitin.
Acht Minuten zu spät
Jeden, der in die Wohnung kommt, bittet Andrei Gnyot, mit Edding an seine «Wand der Freiheit», einen zwei Meter hohen Schrank mit weissen Türen, zu schreiben. Darauf stehen Nachrichten in lateinischer, kyrillischer und thailändischer Schrift, unter anderem «Pravda za Gnyota – Gerechtigkeit für Gnyot».
Sechzig Minuten am Tag darf Gnyot seine Wohnung verlassen. «Zum Mond und zurück» reiche das, scherzt er. In Wirklichkeit braucht er die Stunde, um Lebensmittel einzukaufen. Wenn Zeit bleibt, treibt er Sport.
Ein einziges Mal hat er die sechzig Minuten überschritten – um acht Minuten. «Ich rief zu Hause sofort die Polizei an und sagte, dass ich mich verlaufen hätte und es mir leidtue. Die Polizisten sagten: ‹Das war das erste und das letzte Mal.›» Bei der nächsten Verspätung drohe ihm wieder Gefängnis.
Seine bereits im Gefängnis abgesessene Zeit beschreibt er so: «Ein Raum, keine Folter, Isolation.» Er teilte sich die Zelle mit drei anderen, doch die konnten sich nicht mit ihm verständigen. Anfangs versuchten sie noch, Englisch mit ihm zu sprechen, aber sie beherrschten es nicht gut. Irgendwann baten sie ihn, still zu sein. Weil es zu anstrengend war.
Weil er in Belgrad keine Familie hat, konnte ihn niemand besuchen. Zwar hat das Gericht ihm erlaubt, seinen Vater in Belarus anzurufen, aber die Nummer funktionierte aus dem Gefängnis heraus nicht. Sein einziger privater Kontakt nach draussen war sein Bruder in Thailand. Vier Telefonate pro Monat, für je fünfzehn Minuten. Andere bekamen alle zwei Wochen Pakete mit Essen, Drogerieartikeln und Sportsachen – er nicht.
22 Stunden in der Zelle, 2 Stunden auf dem Gefängnishof spazieren. Das war der Alltag. «Wenigstens gab es auf dem Hof andere Gefangene, die Englisch sprachen.» In den 22 Stunden in der Zelle las er immer wieder dieselben Bücher. Einmal las er aus schierer Langeweile einen Beipackzettel für ein Medikament. Den ganzen Tag über, immer und immer wieder, nur, um etwas zu tun zu haben.
Der Blick aus seiner Wohnung erinnert ihn an den Gefängnishof. Draussen ist eine Metallstange, an der er manchmal Klimmzüge macht. Jetzt sitzt er auf seiner Schlafcouch und muss eine Auslieferung fürchten. «In Belarus drohen mir Folter und Tod», sagt er. Über 1300 politische Gefangene gibt es in Belarus, manche sind spurlos verschwunden (siehe WOZ Nr. 32/24).
Ende August hatte das serbische Berufungsgericht noch bestätigt, dass Gnyot ausgeliefert werden solle. Doch vergangene Woche wurde der Auslieferungsbefehl nun vorübergehend aufgehoben. Der Fall zieht Aufmerksamkeit auf sich. Medien in Serbien und ganz Europa haben berichtet, Filmschaffende schrieben einen offenen Brief und forderten eine Freilassung – darunter Juliette Binoche, Sandra Hüller und Wim Wenders.
Dass hier eine unabhängige Justiz in einem funktionierenden Rechtsstaat agiert, glaubt Gnyot nicht. «Meine Verhaftung ist politisch motiviert. Ich verstehe nicht, warum eine kleine Diktatur wie Belarus Serbien so beeinflussen kann.»
Enttäuscht ist Gnyot auch von der Europäischen Union, davon, dass EU-Regierungschefs nach Belgrad kommen, ohne die Repressionen gegen Menschen wie ihn anzusprechen. «Öffentlich sagen sie nichts. Und wenn sie sich für mich einsetzen, wo bleibt das Ergebnis? Ich sitze in Hausarrest, mir droht die Auslieferung, und wenn ich die Wohnung nicht mehr bezahlen kann, muss ich ins serbische Gefängnis.» Er habe lange für die Demokratie und die europäischen Werte gekämpft und dabei viel verloren, sagt Gnyot und fragt: «Kämpft die Demokratie jetzt auch für mich?»
Nachtrag vom 6. November 2024: Dissident Andrei Gnyot aus Haft entlassen
Exakt ein Jahr nach seiner Festnahme am Flughafen Belgrad hat der belarusische Dissident Andrei Gnyot Serbien verlassen. Er verbrachte sieben Monate im Gefängnis und fünf weitere Monate im Hausarrest. Am Abend des 31. Oktober nahm er vom Belgrader Flughafen aus eine Maschine nach Berlin. Er sagt: «Es war ein Déjà-vu, weil mich die Sicherheitskräfte vor meiner Abreise in den gleichen Raum brachten, in dem sie mich festgenommen hatten.»
Das Lukaschenka-Regime hatte ihn wegen des Vorwurfs der Steuerhinterziehung auf die Interpol-Fahndungsliste gesetzt. Tatsächlich ging es wohl um seine oppositionellen Aktivitäten, die ihn 2020 zur Flucht aus Belarus gezwungen hatten. Nach Serbien war Gnyot gereist, um einen Werbefilm zu drehen. Dort wurde er verhaftet, und es drohte eine Auslieferung nach Belarus. Die serbische Justiz – nicht für ihre Unabhängigkeit bekannt – bestätigte Ende August zum zweiten Mal, dass Gnyot ausgeliefert werden solle. Die WOZ besuchte ihn im Hausarrest. Doch dann wurde der Auslieferungsbefehl plötzlich aufgehoben.
Gnyot sagt, dass ihm bei einer Auslieferung der Tod gedroht hätte. Er dankte am Samstag an einer Pressekonferenz in Berlin allen, die halfen, «mein Leben zu retten». Dazu zählt neben bekannten Filmschaffenden auch die belarusische Oppositionsführerin Swjatlana Zichanouskaja, die Serbiens Präsidenten Aleksandar Vučić persönlich um Gnyots Freilassung gebeten hatte. Ausserdem hatten sich mehrere Botschaften für seine Freilassung eingesetzt.
Die Sorge, die Haft als politischer Gefangener in Belarus nicht zu überleben, ist begründet. Am 11. Oktober starb der 22-jährige Dmitri Schletgauer – der siebte bekannte Todesfall eines politischen Gefangenen in Belarus seit den Protesten 2020. Derzeit befinden sich noch rund 1300 politische Gefangene in Haft.