Hochwasserschutz: Der Rhein soll wieder Fluss sein dürfen
Auf den letzten 26 Kilometern vor dem Bodensee soll der Hochwasserschutz am Rhein verbessert werden. Der längste Fluss der Schweiz könnte damit nach mehr als 130 Jahren wieder mehr Raum bekommen. Wie viel, darüber ist man sich nicht einig.

1892 war es endlich so weit. Die Schweiz und Österreich einigten sich auf den ersten Staatsvertrag zur Regulierung des Rheins. Der unberechenbare «Wildbach» an der Grenze zwischen St. Gallen und Vorarlberg sollte gezähmt und zwischen dem kleinen Dorf Oberriet und dem Bodensee in die Schranken gewiesen werden.
Doch damit der Staatsvertrag nach fast siebzigjähriger Verhandlungszeit unterschrieben wurde, brauchte es einen Weckruf. Jahrzehntelang wurde man sich nicht einig, wie man das «Armenhaus» Rheintal vor dem mäandernden und unberechenbaren Alpenrhein schützen sollte. 47-mal trat er im 19. Jahrhundert über die Ufer. 1853 sprach man von einem «Binnenmeer von Chur bis Bodensee». 1888 und 1890 verwüsteten Hochwasser das Tal. «Über Nacht verwandelte sich Lustenau in einen See», schrieb der Zeitzeuge Eugen Hillman über die Katastrophe 1890. Und Albin Schmid, der die Flut als Zwölfjähriger miterlebt hatte, berichtete vom «Jammer», der in jedem Haus zu hören war, «da die Ernte wiederum zugrunde gegangen war».
Danach ging es schnell. Acht Jahre nach dem Staatsvertrag war der Fussacher Durchstich geschafft. Seither biegt der Rhein bei St. Margrethen nicht mehr nach Westen ab, sondern rauscht nordwärts durch einen fünf Kilometer langen Kanal direkt in den Bodensee. Nochmals 23 Jahre später ist der Diepoldsauer Durchstich gebaut – und der Rhein noch mehr begradigt. Seither ist der einstmals wilde Fluss eine Autobahn für rund 7,6 Milliarden Kubikmeter Wasser pro Jahr.
132 Jahre nach dem Staatsvertrag steht Umweltminister Albert Rösti auf der Wiesenrainbrücke über dem Rhein. Es ist der 17. Mai 2024. Die Gleise des «Rheinbähnle» – der einstigen Dienstbahn der Rheinregulierung –, die über die Brücke führen, erinnern an das historische Grossprojekt. Neben Rösti steht der österreichische Land- und Wasserwirtschaftsminister, Norbert Totschnig, mit dem er den vierten Staatsvertrag zur Rheinregulierung unterschreibt. Ein historisches Ereignis, das die nächsten hundert Jahre Hochwasserschutz aufgleist. Nur, wie soll der Rhein in Zukunft aussehen?
Hochwasserschutz, St. Margrethen
«Zwischen der Illmündung bei Oberriet und dem Bodensee sind wir heute nur für ein hundertjährliches Hochwasser am Rhein gewappnet», erklärt Markus Mähr. Also für ein Hochwasser in einem Ausmass, wie es statistisch nur alle hundert Jahre vorkommt. An einem nebligen Novembermorgen stehen wir im schmucklosen Bürogebäude der Internationalen Rheinregulierung (IRR) in St. Margrethen. Die IRR wurde mit dem ersten Staatsvertrag gegründet und ist für den Hochwasserschutz auf der «internationalen Strecke» zwischen Oberriet und Bodensee zuständig. Seit 2011 leitet Bauingenieur Mähr das «Rhesi», wie das Projekt zur Zukunft des Rheins heisst.
Der Vater zweier erwachsener Töchter ist im vorarlbergischen Röthis am Hang des Rheintals aufgewachsen und hat seit jeher ein «ambivalentes Verhältnis» zum Rhein. «Er ist der grosse Fluss unseres Tals», sagt er nicht ohne Zuneigung und Respekt. «Aber beim Hochwasser 1987 habe ich als Jugendlicher die reale Bedrohung erlebt.» In Diepoldsau wurde die grösste Abflussmenge seit Messbeginn 1904 beobachtet. Der Rhein war voll Holz, riss Holzbrücken mit. Bei Fussach brach der Schutzdamm – wenige Hundert Meter nach dem Dorf, zum Glück –, ein Weckruf. Der Rhein sei für ihn ein begradigter Kanal gewesen, von dem eine Gefahr ausgehe, sagt Mähr. «Nun reizt mich die Aufgabe, den Fluss wieder Fluss werden zu lassen», ohne dabei die Sicherheit der 300 000 Menschen zu opfern, die im Rheintal zwischen Illmündung und Bodensee leben.
Diese ist nicht mehr bedingungslos gewährleistet. Bei einem Hochwasser, wie es nur alle 300 Jahre vorkommt, könnten pro Sekunde 4300 Kubikmeter Wasser den Rhein hinunterrauschen. «Das Schadenspotenzial bei einem solchen Ereignis liegt bei dreizehn Milliarden Franken», erklärt Mähr. Die heutigen Dämme wurden für Hochwasser mit 3100 Kubikmeter Wasser pro Sekunde konstruiert. Ein Dammbruch hätte verheerende Folgen. Längst wohnen Menschen nahe am Wasser; es gibt Industrie, Landwirtschaft, Hochspannungsleitungen, eine Autobahn.


Dass die Gefahr solcher grosser Hochwasser bestehe, dessen ist sich Mähr sicher. «Das hat der Sommer 2024 deutlich gezeigt.» Und mit der Klimaerhitzung würden Extremereignisse wahrscheinlicher. Die Zahl der Starkregenereignisse wird bis Ende Jahrhundert um zwanzig Prozent zunehmen. Die vergangenen dreissig Jahre waren gemäss Bundesamt für Umwelt bereits die «hochwasserreichsten in Europa seit 500 Jahren».
Heute ist der Rhein zwischen zwei sogenannten Mittelgerinnewuhren eingezwängt. Die meiste Zeit fliesst er in geordneten Bahnen dem Bodensee entgegen. Bei Hochwasser werden die angrenzenden, rund hundert Meter breiten «Vorländer» überschwemmt und das Wasser von den äusseren Schutzdämmen zurückgehalten.
Seit zwanzig Jahren weiss man: Dieses System muss zwischen Illmündung und Bodensee verbessert werden. 2009 begann die IRR im Auftrag der Schweiz und Österreichs, das Hochwasserschutzprojekt «Rhesi» auszuarbeiten. 2011 wurde eine erste Machbarkeitsstudie mit sechs verschiedenen Varianten veröffentlicht. «Das hat viele Leute aufgerüttelt und heftige Diskussionen ausgelöst», erinnert sich Mähr. «Denn damals wurde erstmals klar, um was es geht.»

Trinkwasser, Widnau
Im Trinkwasserpumpwerk von Au ist es kalt. Christa Köppel läuft Rohren entlang durch einen niedrigen Schacht zum Brunnen, der unter dem Rheindamm und der darüber verlaufenden A13 liegt. «Trinkwasser ist in Zeiten des Klimawandels eine zentrale Ressource», sagt sie und blickt in den fünfzehn Meter tiefen Brunnen. Das Wasser am Grund schimmert bläulich. «Für das lohnt es sich zu kämpfen.»
Als 2011 die sechs Varianten vorgestellt wurden, merkte Köppel: Das wird für die Trinkwasserversorgung brisant. Sie war 1999 in der Gemeinde Widnau die erste Gemeindepräsidentin im Kanton. Als im selben Jahr ein Hochwasser wütete, stand sie, eben erst gewählt, an vorderster Front. «Man hat schon damals gespürt, dass der Hochwasserschutz mit dem Klimawandel eine riesige Sache werden wird», erinnert sie sich.
Bis zur Pensionierung vor eineinhalb Jahren hielt sie das Amt als Gemeindepräsidentin. Nun ist sie für die Koordination der öffentlichen Wasserversorger der Region Rheintal zuständig und vertritt deren Interessen. «Wir haben direkt vor der Haustür einen schier endlosen Strom an qualitativ hochstehendem Grundwasser», erklärt Köppel. Doch die geplante «Dynamisierung des Flussgerinnes» sei eine Herausforderung.


Bis 2018 wurde aus sechs Varianten von «Rhesi» eine «Bestvariante» entwickelt. Sie soll alle rechtlichen Vorgaben erfüllen und die verschiedenen Interessen ausgewogen berücksichtigen. «Wir sind der Meinung, dass diese Variante das Maximum der Interessen abdeckt», meint Mähr.
Dazu wird der Rhein zwischen Illmündung und Bodensee aufgeweitet und renaturiert. Das ist gemäss Bundesgesetz Pflicht. Wer an einem Fliessgewässer baut, muss den «natürlichen Verlauf» möglichst beibehalten oder wiederherstellen, damit der Fluss einer «vielfältigen Tier- und Pflanzenwelt als Lebensraum dienen» kann.
Um sich freier entwickeln zu können, soll der Rhein mehr Platz erhalten. In drei «Kernlebensräumen» wird der Fluss bis zu 380 Meter breit werden – was die flussdynamischen Prozesse laut Projektbeschrieb wieder ermöglichen soll. Auf Visualisierungen sind Auwälder, Flussinseln, Nebengerinne und Stillwasserzonen zu sehen.
Der Platz ist mancherorts knapp, zwischen den Kernlebensräumen wird der Rhein weniger aufgeweitet – von heute 55 bis 90 Meter auf 150 bis 200. Der zusätzliche Platz und die damit ermöglichte natürlichere Dynamik würden mit der Verbesserung der Aussendämme die Hochwassersicherheit markant verbessern, erklärt Markus Mähr.
«Für einen besseren Schutz braucht der Rhein mehr Platz», ist sich auch Christa Köppel bewusst. Nur dürfe das nicht auf Kosten der Trinkwasserversorgung gehen. Gerade zwischen Au und Lustenau sei es sehr eng. Auf der österreichischen Seite stünden die Häuser «knirsch» am Damm, sagt Köppel. Eine Folge der wirtschaftlichen Entwicklung des Rheintals, die erst durch die Regulierung möglich wurde. «Da müssen wir das Beste mit dem jetzigen Zustand machen. Wir können nicht zurück ins 19. Jahrhundert.»
In der zwanzigjährigen Bauzeit, die 2032 beginnen soll, sind gigantische Investitionen für die Trinkwasserversorgung nötig: Brunnen versetzen, Verbindungsleitungen verlegen, Gemeinden vernetzen, Ersatzwasserversorgung während der Bauetappen aufgleisen, Notfallversorgung sicherstellen.
Die Historikerin Köppel blickt positiv auf die Rheinregulierung. «Die Kanalisierung hat das Tal vor dem Rhein gerettet», sagt sie und verteidigt das Bauwerk, das heute ökologisch quer in der Landschaft steht. «Wenn wir jetzt wieder in eine Natürlichkeit zurückgehen, dürfen wir nicht auch die Bedrohlichkeit zurückholen.»

Landwirtschaft, Oberriet
Hans Graf findet, die Bedrohung werde übertrieben. «Dieses Werk hat über hundert Jahre lang einwandfrei funktioniert», sagt der Landwirt. «Ich bin überzeugt, dass uns ‹Rhesi› weniger Sicherheit bietet.» Graf steht gegenüber der Frutzmündung in den Vorländern vor einer Kuhherde. Die Felle dampfen in der Novembersonne. Im Hintergrund rauscht die Autobahn. Seit 1988 führt Graf einen Hof in Oberriet, zu dem auch neun Hektaren Pachtfläche in den Vorländern gehören. Wunderbares Land sei das, nährstoffreicher Boden, auch bei Regen gut befahrbar, topfeben.
Doch wird bis 2052 tatsächlich die «Bestvariante» gebaut, werden Graf und weitere Landwirt:innen 250 Hektaren Land verlieren. Die Vorländer würden entweder verschwinden oder dürften nur noch extensiv bewirtschaftet werden. «In einer Zeit, wo wir um jeden Quadratmeter kämpfen müssen, verlieren wir enorm viel produktive Flächen», sagt er.
Graf ist Teil des Vereins «Pro Kulturland und Hochwasserschutz» und einer, der gerne «den Grind härehebt». Seit «Rhesi» 2011 öffentlich wurde, setzt er sich für eine Variante ein, die ohne Kulturlandverlust auskommt. Im Parlament stand ihm die SVP zur Seite. Doch als der Staatsvertrag diesen September im Nationalrat besprochen wurde, gab es zwar kritische Voten von rechts – doch auch von den 67 SVP-Vertreter:innen stimmten nur 17 dagegen. Das zeigt: Politisch ist «Rhesi» heute praktisch unbestritten. Moderner Hochwasserschutz wird kaum möglich sein, ohne Kulturland zu verlieren.
Das Rheinvorland gehört dem Kanton. Er kann die Pachtverträge kündigen. «Uns war immer klar, dass das Land nicht uns gehört», sagt Graf, während zwei Graureiher über den Rhein gleiten. «Rechtlich ist der Kanton nicht verpflichtet, eine Entschädigung zu zahlen. Aber menschlich und moralisch sehe ich das anders.» Viele Betriebe hätten aufgrund der vorhandenen Flächen Investitionen getätigt, die auf kleineren Flächen gegebenenfalls nicht rentieren würden. «Das verstehen manche Leute nicht.»
Bis 2052 wird Graf fast ein Drittel des Landes verlieren, das er bewirtschaftet. «Auch wenn ich das vielleicht nicht mehr erlebe, geht es mich etwas an», verteidigt er sich. Er glaubt, dass sein Betrieb die Veränderungen verkraften und einen Weg finden wird. «Andere werden ihn nicht finden. Sie haben keine Ausweichmöglichkeiten und sind existenziell höchst bedroht. Es ist auch meine Aufgabe, für die nächsten Generationen zu schauen.»
Für Graf würde eine Modernisierung der Dämme reichen. Vor einem grossen Hochwasser hat er keine Angst. «Ich bin da nicht so pessimistisch wie andere.» Die Bilder der Hochwasser am Rhein zeigten, dass das System der Vorländer, die als Überlauf dienten, funktioniere. «Die Ökologen sagen natürlich, dass die Kanalisierung eine Sünde war», sagt er. «Aber die Entwicklung des Rheintals beweist das Gegenteil.»
Ökologie, Mastrils
«Der Rhein ist heute eine Wüste», sagt Lukas Indermaur. Wobei der Vergleich hinke: Wüsten seien voller Leben. Der Rhein sei eigentlich eine Leiche: keine Strukturen im Fluss, eine harte – für Menschen und Tiere unüberwindbare – Kante zwischen Fluss und Umland, hohe Strömungsgeschwindigkeiten, kaum Gehölz.
Indermaur steht 45 Kilometer rheinaufwärts bei Landquart auf dem Damm. Links rauscht die A13, rechts der Fluss. Eine Biberspur führt durchs Gehölz zu einem kleinen Teich im Wald. «Wir müssen dem Fluss wieder Leben einhauchen.»
Seit Jahren begleitet Gewässerbiologe Indermaur «Rhesi» für den WWF St. Gallen. Sein Ziel ist es, dem Fluss so viel Platz wie möglich zu geben. «Aber wir sind jahrelang gegen den Strom angeschwommen», sagt er. Die Fischartenvielfalt im Alpenrhein sei markant gesunken: Früher habe es dreissig häufige Arten gegeben, heute seien es noch sechs. «Dreizehn Fischarten sind im Alpenrhein ausgestorben, elf weitere fast.» Gerade für flussaufsteigende und schwimmschwache Arten fehle der Lebensraum. Das betrifft die Rotfeder oder den Strömer. Beide sind auf tiefe Fliessgeschwindigkeiten oder Nebengerinne angewiesen.
Ist «Rhesi» da nicht eine Chance? «Man könnte so viel mehr herausholen», klagt Indermaur. Auch in Zukunft seien die Fliessgeschwindigkeiten an den engsten Stellen wie zwischen Au und Lustenau zu hoch. «Dort könnte man mehr in die Breite», ist sich Indermaur sicher. «Aber man will die Grundwasserschutzzonen nicht antasten.» Die Flussbreite ist für Lukas Indermaur der ökologische Schlüssel. «So kann sich der Fluss wieder selbst erfinden», sagt er. In Ansätzen könne man das hier an den Mastrilser Auen beobachten, wo die Landquart in den Rhein mündet. Es ist die breiteste Stelle zwischen dem Zusammenfluss von Vorder- und Hinterrhein bei Reichenau und dem Bodensee. «Aber selbst hier sehen wir nur eine im Ansatz naturnahe Flussmorphologie und Dynamik.»
Auch wenn der Rhein hier breiter werde und sich Sandbänke bildeten, auf denen Bodenbrüter wie der stark gefährdete Flussregenpfeifer brüteten, sei er doch von einem Damm und der daneben verlaufenden Autobahn eingezwängt. «Früher war der Rhein hier durchschnittlich 360 Meter breit, heute nur noch 140 Meter.»
Darum gibt es auch kaum Tümpel und Auwälder. «In Tümpeln findet sich die Hälfte der aquatischen Artenvielfalt. Achtzig Prozent der Tier-, Pflanzen und Pilzarten kommen in Auwäldern vor», erklärt Indermaur. «Beide sind für die Biodiversität matchentscheidend. Deshalb sind wir bei den Breiten so pingelig.» «Rhesi» sei eine einzigartige Chance, dem Artenschwund zu begegnen.
Dabei kritisiert Indermaur, dass die Artenvielfalt bloss als «Nice to have» behandelt werde. «Ich kriege Krämpfe, wenn man ‹Rhesi› primär als Hochwasserschutzprojekt bezeichnet und das als Rechtfertigung für Abstriche bei der Ökologie nimmt.» Gemäss Gesetzgebung seien Renaturierung und Hochwasserschutz «gleichberechtigte Zwillinge». Hinzu komme: «Je breiter, desto ökologischer, desto sicherer.»
Nun gelte es, die definitive Projektauflage abzuwarten. Dort könne man nochmals prüfen, ob geltendes Recht eingehalten werde. Dass «Rhesi» realisiert wird, steht für Indermaur ausser Frage. Der Ständerat entscheidet am Erscheinungstag dieser WOZ über den Staatsvertrag – Gegenstimmen werden keine erwartet. «Das Schadenspotenzial ist zu gross, wenn wir nichts tun. Aber ich habe grosse Sorgen, dass wir etwas bauen, das ökologisch nicht hinreichend ist und dann wieder 150 Jahre bleibt.»