Literatur: Von Krieg und Verrat
Als «Roman über das 20. Jahrhundert» bezeichnet Mathias Énard, literarisches Ausnahmetalent aus Frankreich, seinen jüngsten Roman «Déserter» (der deutsche Titel «Tanz des Verrats» ist eher unglücklich gewählt). Der Goncourt-Preisträger 2015 (für «Kompass») ist ein sprachmächtiger Epiker, der seine Texte politisch klug mit historischem Wissen unterfüttert. Mit «Déserter» reagiert er auf die Rückkehr des Krieges nach Europa durch den russischen Angriff auf die Ukraine. Das Buch erzählt einerseits von der physischen und psychischen Grausamkeit eines Krieges, andererseits von einer deutsch-deutschen Verratsgeschichte vom Zweiten Weltkrieg bis heute.
Im ersten Erzählstrang flieht ein Kriegsverbrecher von einer unbenannten Front in eine einsame Hütte in den Bergen. Kurz darauf stösst eine Frau mit ihrem Esel dazu. Sie ist Kriegsopfer, vielleicht Kollaborateurin, vergewaltigt und misshandelt auch von eigenen Leuten. Der Mann lässt sie zu ihrer Verwunderung am Leben. Als drei andere Deserteure die beiden überraschen, kommt es zum Showdown: Die wehrhafte Frau und der abgebrühte Mann obsiegen im Kampf und brechen zur Grenze auf. Es bleibt ein Funke Hoffnung auf Menschlichkeit: Man wünscht sich, die beiden fänden ein Leben jenseits von Gewalt und Krieg.
Der andere Strang handelt von einem fiktiven deutschen Starmathematiker, Kommunisten und KZ-Überlebenden namens Paul Heudeber, der nach dem Krieg in der DDR geblieben ist, sowie seiner (als Spionin?) im Westen lebenden Frau. Erzählerin ist die Tochter der beiden, sie enthüllt komplexe Verhältnisse von Verrat und Widerstand im Leben der Eltern.
Énard findet für beide Geschichten wunderbare Sprachbilder, im Tonfall sind sie völlig verschieden: aufwühlend und poetisch das unerbittliche Kriegsepos, reflektiert und raffiniert die auf ein Liebespaar fokussierte Selbstbefragung: Was bedeutet Verrat in Krieg und Diktatur? Antworten zu finden haben die Leser:innen.
