Disput auf der Alp: Wars der Geier?

Nr. 34 –

Neue Sommergäste, tote Schafe und aufgewühlte Älpler:innen: Die Gänsegeier sind zurück und sorgen für Wirbel – wie ein Besuch vor Ort zeigt.

junger Gänsegeier im Anflug
Drei- bis vierjähriger Gänsegeier im Anflug. Mit scharfem Blick erkennt er ein verendetes Tier von weit oben.
junger Gänsegeier im Anflug
Drei- bis vierjähriger Gänsegeier im Anflug. Mit scharfem Blick erkennt er ein verendetes Tier von weit oben.

Der fantastische Segler hat eine Spannweite von zweieinhalb Metern und zieht über den Alpen majestätisch seine Kreise. Manchmal tauchen siebzig, hundert oder noch mehr Tiere miteinander auf, was einen erschrecken und ängstigen kann. So geschehen vor einem Jahr auf einer Alp im Berner Oberland.

Was sich dort ereignete, liesse sich als Kriminalfall erzählen. Gut zwanzig tote Schafe: Was war passiert? Wer hatte sie getötet? Wer war der Täter? Der Wolf, der Luchs, der Geier, ein Steinschlag? Allein die Fragen so zu stellen, ist problematisch. Aber das begreift man erst, wenn man ein Jahr später auf die besagte Alp hochsteigt, um zu ergründen, was es mit den Geiern auf sich hat. Der Name der Alp tut nichts zur Sache, wie auch keine Akteur:innen hier beim Namen genannt werden. Die Emotionen gingen im letzten Jahr so hoch, dass die Beteiligten noch immer nicht miteinander reden können. Die betroffenen Älpler:innen möchten auf keinen Fall noch einmal etwas sagen, was publiziert wird. Zu gross ist die Angst, dass aus dem Gesagten etwas ganz anderes wird.

Ein Tohuwabohu bricht los

Der Weg führt durch Geröllfelder, vorbei an blühenden, mageren Wiesen und durch einen lichten Wald. Dann taucht eine kleine, hübsche Alphütte auf. Rote Geranien blühen vor den Fenstern. Rechts erhebt sich eine mächtige Fluh, links ragt eine klobige Felszacke in die Höhe, die sie «Jümpferli» nennen. Dazwischen liegt die Weide, die nach oben immer steiler wird. Ganz oben begrenzt eine Mauer von Kalkzacken den Kessel.

Unter diesen Zacken weideten letztes Jahr die Schafe. Es ist um die Mittagszeit, als ein Tohuwabohu losbricht. Die Leute, die sich zu jener Zeit auf der Alp befinden, gehen nachschauen. Was sie sehen, ist verstörend: Da liegen tote und halbtote Schafe, daneben Geier, die abwartend dahocken oder sich über die Schafe hermachen. Am Himmel kreisen weitere Geier. Die Leute sagen, es seien sicher 200 gewesen. Es gibt ein Video, das die Szenerie teilweise einfängt. Und Fotos, die tote Schafe zeigen. Manche sehen aus, als ob nur noch ihre Hülle übrig geblieben wäre. Ein Schaf hat auf der vorderen Flanke ein tiefes Loch, einem anderen hängen die Eingeweide aus dem Maul. Keine schönen Bilder. Aber angefressene Tiere – egal ob von Fuchs, Wolf, Krähen oder Geiern – sind nie schön anzuschauen.

Natur- und Tierfotograf

Die Bilder auf diesen Seiten stammen von Hansruedi Weyrich. Der mehrfach ausgezeichnete Naturfotograf beschäftigt sich seit über dreissig Jahren intensiv mit Tierfotografie. Seine Bilder erscheinen in zahlreichen Büchern und in Zeitschriften wie «Naturfoto», «GEO» oder «National Geographic». 

www.weyrichfoto.ch

Die Leute auf der Alp rufen die Wildhüter an, wie man das in einem solchen Fall tun muss. Die Wildhüter kommen, schauen sich die Sache an und sind überzeugt: Es könne kein Wolf und auch kein Luchs gewesen sein, die Schafe zeigten keine Bissspuren. Die Gänsegeier könnten es auch nicht gewesen sein, so die Wildhüter, weil diese Aas frässen. Die Wildhüter vermuten, dass die Schafe durch einen Steinschlag getötet wurden. Umgehend organisieren sie im Auftrag des Veterinäramts einen Helikopter, der die Kadaver von der Alp fliegen soll. Tote Tiere dürfen nicht auf den Weiden liegen bleiben, das schreibt das Gesetz vor.

Der Schafbesitzer wohnt im Unterland. Erst zwei Tage zuvor hat er noch nach seinen Schafen geschaut. Alles war bestens. Er fährt sofort hoch. Um etwa vier Uhr ist er oben. Der Heli ist schon bestellt. Die Wildhüter sagen ihm, was ihrer Meinung nach passiert sei und dass die Tiere rechtmässig entsorgt werden müssten.

Weder die Älpler:innen noch der Schafbesitzer können verstehen, dass man diese Geschichte so schnell für erledigt hält und nicht auf ihre Fragen eingeht. So viele tote Schafe und so viele Geier – das wühlt auf. Sie sind davon überzeugt, dass die Geier die Tiere in den Tod getrieben haben – absichtlich oder unabsichtlich, das sei dahingestellt. Die Wildhüter lassen sich nicht auf diese Diskussion ein und stellen sich auf den Standpunkt, dass kein Grossraubtier involviert gewesen sei. Mehr könnten sie nicht sagen und nicht tun. Niemand kann vermitteln. Die Emotionen kochen hoch. Es werden Dinge gesagt, die man sonst vermutlich nie gesagt hätte.

Patente Seuchenbekämpfer

In der Schweiz ist ein Geier heimisch, aber nicht der Gänse-, sondern der Bartgeier. Er sieht ansprechend aus, weil sein Kopf und sein Hals befiedert sind. Seine Spannweite ist eher noch grösser als die des Gänsegeiers; mit fünf bis sieben Kilo Körpergewicht wiegt er jedoch etwas weniger. Früher war sein Ruf miserabel. Er wurde «Lämmergeier» genannt, weil man ihm unterstellte, Lämmer und kleine Kinder zu holen. Ende des 19. Jahrhunderts wurde er deswegen ausgerottet. Es kostete viel Arbeit, ihn wieder anzusiedeln. Vor allem mussten die Leute davon überzeugt werden, dass sich der Bartgeier fast ausschliesslich von den Knochen toter Tiere ernährt und sich niemals Lämmer greift. Heute brüten wieder rund dreissig Paare in der Schweiz. Die Gänsegeier hingegen sind Sommergäste. Seit einigen Jahren kommen immer mehr hierher, unter anderem, weil sich die Brutkolonien im französischen Zentralmassiv gut entwickelt haben und in den heissen Sommern eine ideale Thermik herrscht. Dieses Jahr wurden weniger Tiere gesichtet, weil es oft regnete.

Gänsegeier leben monogam. Die Paare bleiben im Zentralmassiv und kümmern sich um ihr Küken. Nur diejenigen, die noch keinen Partner haben – also meist junge Tiere –, ziehen los, um den Sommer in den Alpen zu verbringen. Gänsegeier sehen aus, wie man sich Geier vorstellt: Das Federkleid hört am Nacken auf, Hals und Kopf sind aber nicht nackt, sondern mit weissem Flaum bedeckt.

Gänsegeier kämpfen um Rangfolge
Bei einem verendeten Tier finden sich innert Kürze viele Gänsegeier ein. Mit kurzen Kämpfen fechten sie aus, in welcher Rangfolge gefressen wird.

Im Gegensatz zum Adler ist der Gänsegeier nicht als Jäger gebaut. Seine Krallen sind stumpf und taugen nicht zum Töten. Er ist auf Aas spezialisiert. Dabei nutzt er bevorzugt bestehende Körperöffnungen, um an die Innereien zu gelangen, die besonders nährreich sind. Er pickt die Augen heraus, geht über den After oder offene Wunden. Ausserdem kann der Gänsegeier schon an Tieren fressen, die noch leben, sich aber nicht mehr wehren können. Für uns Menschen, die wir Tiere für gewöhnlich nur gesund und munter oder als Schnitzel auf dem Teller kennen, mag diese Vorstellung unerträglich sein. Doch ein verletztes abgestürztes Tier – egal ob Schaf oder Gämse – muss vielleicht tagelang leiden, bis es stirbt. Kommen die Geier, ist es binnen Kürze tot. Ein Geier frisst pro Minute ein Kilogramm Fleisch. Eine Gruppe Geier vertilgt einen Schafkadaver innerhalb von zwei bis drei Stunden. Die Vögel schaffen es aber auch, vier Wochen ohne Nahrung zu überleben.

Geier haben eine Körpertemperatur von vierzig Grad und einen ausserordentlich sauren Magen. Das macht sie zu den perfekten Seuchenbekämpfern. Viren oder Bakterien können ihnen nichts anhaben. Ein Jäger, der oft in der Umgebung der besagten Alp unterwegs ist, erzählt ein Beispiel dafür, wie eine gute Balance zwischen Grossraubtieren, Geiern und Seuchen spielen könnte. Vor gut zwanzig Jahren gab es in der Gegend eine grosse Gamspopulation; Hunderte lebten um die Fluhen. Dann brach die Gämsblindheit aus. Die Tiere sterben nicht daran, sind aber während mehrerer Tage annähernd blind und stürzen oft ab. Die Krankheit ist hoch ansteckend. Sie wird durch direkten Kontakt oder über Fliegen übertragen. Hätte zu jener Zeit der Wolf in der Gegend gelebt, hätte er die ersten kranken Tiere sofort erlegt, und die Geier hätten die Überreste entsorgt. Dadurch wäre verhindert worden, dass sich praktisch die gesamte Population ansteckte. Ein Grossteil der Gämsen starb damals.

Vertilgte Beweismittel

Dieses erfolgreiche Aufräumen ruft aber auch einen neuartigen Konflikt hervor. Raubtier und Geier rücken zusammen, ob das den Menschen nun gefällt oder nicht. Reisst zum Beispiel ein Wolf ein Nutztier, werden die Besitzer:innen vom Staat entschädigt – aber nur, wenn die Wildhüter:innen feststellen, dass ein Grossraubtier aktiv war. Sind keine Rissspuren zu erkennen, gibt es kein Geld. Für jedes gerissene Tiere werden Besitzer:innen individuell entschädigt. Gemäss «Einschätztabelle» des Schweizerischen Schafzuchtverbands bekommt man für ein Lamm 300 bis 800 Franken, für ein ausgewachsenes Schaf bis zu 1000 Franken. Das ist vom Alter abhängig und davon, ob es sich um Rassetiere handelt.

Nun kann es sein, dass ein Raubtier ein Schaf tötet. Gänsegeier sehen es, fressen die Reste, beseitigen alle Bissspuren und damit auch die Beweismittel. Die Beweislast liegt heute bei den Tierbesitzer:innen. Ohne Beweis zahlt der Staat keine Entschädigung.

Die Wildhut rät bei einem mutmasslichen Riss, die toten Tiere sofort mit einer Blache abzudecken, damit die Geier nicht an die Kadaver gelangen. Ein vernünftiger Tipp – im Fall der besagten Alp war das aber nicht so einfach. Die Leute, die auf der Alp waren, versuchten es. Es herrschte jedoch ein wildes Getümmel. Die Geier seien in einem richtigen Blutrausch gewesen, sagte jemand. Die Metapher ist naheliegend, vermutlich aber nicht ganz richtig. Es war mutmasslich eher die Fressgier, die sie überkam.

Gänsegeier im Anflug
Mit deutlich über zwei Metern Flügelspannweite gehört der Gänsegeier zu den grössten Vögeln im Alpenraum.

Die bekannten Filmemacher Ernst Arendt und Hans Schweiger drehten in den siebziger Jahren einen Film über Gänsegeier in der spanischen Sierra Nevada. Sie dokumentierten unter anderem deren Fressverhalten: ein ruppiges Spektakel. Der Stärkste und Hungrigste wagt sich als Erster an das Aas, spreizt ehrfurchteinflössend die gewaltigen Flügel, hebt drohend einen Fuss, um die andern davon abzuhalten, sich dem Kadaver zu nähern, alles begleitet von zischenden und fauchenden Drohlauten. Er beginnt zu fressen, die andern rücken näher. Einer hockt angespannt im Hintergrund. Das Wasser läuft ihm im Schnabel zusammen und tropft heraus. Irgendwann kann er seine Fressgier nicht mehr zügeln und wirft sich ins Getümmel, legt den Kontrahenten rabiat auf den Rücken, versucht, den Kopf in den Kadaver zu stecken, um zu fressen, wird aber selber attackiert und verdrängt. Es entfaltet sich unübersichtliches Gerangel. Schwierig, sich vorzustellen, in einer solchen Situation einen Kadaver abzudecken. Die Filmemacher sagen aus dem Off, das Gebalge wirke sehr aggressiv, sie hätten aber nie gesehen, dass sich die Tiere gegenseitig verletzt hätten. Es ist ein Showkampf.

Die Filmer berichten von einem weiteren Phänomen: Die Geier sind solitär oder höchstens in kleinen Gruppen unterwegs. Stundenlang segeln sie in grosser Höhe und spähen nach Futter. Dabei haben sie stets die anderen Tiere im Blick. Insbesondere beobachten sie die anderen Geier, die entfernt ihre Runden drehen. Sehen sie, wie einer landet, fliegen sie hin in der Hoffnung, Nahrung zu finden. Das wirkt wie ein Sog. Am Ende können sich die Geier aus einem riesigen Gebiet an einem Punkt versammeln. Damit lässt sich erklären, weshalb über der besagten Alp 200 Geier präsent waren. Sie blieben noch eine Weile dort, als die toten Tiere schon entsorgt waren. Das wirkte, als ob sie Jagd machen wollten. Die Erklärung der Ornitholog:innen ist aber eine andere: Wenn viele tote oder verendende Tier herumliegen, muss das einen Grund haben. Früher waren es meist Seuchen oder Dürren. Die ersten sterbenden Tiere waren Vorboten für weitere sterbende Tiere. Also lohnte es sich durchaus, sich etwas zu gedulden.

Panische Schafe

Was könnte auf besagter Alp nun wirklich passiert sein? Schaut man sich das Gelände an, klingt die Steinschlagthese nicht sehr überzeugend. Die überzeugendste Erklärung ist: Die Schafe stiegen in das steile Gelände bei den Kalkzacken, und irgendetwas erschreckte sie. Das kann ein Luchs, ein Wolf oder auch eine Gruppe von Gänsegeiern gewesen sein, die unmittelbar hinter den Zacken auftauchten. Schafe oder Gämsen erschrecken, wenn unerwartet grosse Schatten über sie hinweggleiten. Auch ein Gleitschirmflieger oder ein lauter Knall kann Panik auslösen. Eine panische Schafherde rennt einfach los. In dem steilen, grasdurchsetzten, steinigen Gelände dürften sie abgestürzt und weiter unten tot oder verletzt liegen geblieben sein. Die genaue Ursache lässt sich wohl nie mehr klären.

Für den Schafbesitzer war es emotional, hatte er doch viele der zum Teil rassereinen Schafe selber aufgezogen. Dazu kam eine ökonomische Frage: Er erhielt keine Entschädigung. Zudem hatte er sich entschieden, seine Schafe sofort von der Alp zu holen, weil die Geier immer noch da waren und er befürchtete, noch mehr Tiere zu verlieren. Damit entging ihm ein Grossteil der Sömmerungsbeiträge, die der Bund ausbezahlt, wenn Schafe auf die Alp gebracht werden. Zusammengerechnet kam er auf einen Verlust von um die 17 000 Franken, inklusive 1000 Franken für den Helikopter.

Am Ende bleibt eine Reihe von Fragen. Haben die Geier die Schafe absichtlich erschreckt und zum Abstürzen gebracht? Soll man Besitzer:innen von Tieren, die von Geiern gefressen wurden, entschädigen? Soll es für vermisste Tiere, die vielleicht vom Wolf getötet und danach vom Geier gefressen wurden, Entschädigung geben?

Alle Geierexpert:innen sagen, es sei wissenschaftlich noch nie dokumentiert worden, dass Geier gezielt gejagt oder gesunde Nutztiere angegriffen hätten. Zwar gibt es Videos, die das zu belegen scheinen. Diese Aufnahmen zeigen jedoch meist nur einen Ausschnitt des Geschehens. Man sieht nicht, was vorher geschah. In der Fachzeitschrift «Biological Conservation» wurde vor zwei Jahren eine Studie zum Thema publiziert. In Katalonien, wo noch sehr viele Gänsegeier brüten, häuften sich in den nuller Jahren die Klagen der Landwirt:innen, die Geier würden ihr Vieh «attackieren»; in jener Zeit war deren Nahrung knapp geworden, weil ein neues Gesetz untersagte, Kadaver im Gelände liegen zu lassen. Die Autor:innen setzen den Begriff «Attacke» in Anführungszeichen, weil auch hier meist nicht eindeutig belegt sei, dass es ein Angriff gewesen sei, die Bäuer:innen es aber so wahrnehmen würden. Die Wissenschaftler:innen appellieren, den wachsenden Konflikt rechtzeitig und vertieft zu analysieren, um mit den Landwirt:innen nach Lösungen zu suchen und die Situation zu entspannen. Der Staat entschädigt manchmal für Tiere, die von Geiern gefressen wurden. Doch das allein sei noch nicht die Lösung, schreiben die Autor:innen. Entscheidend sei es, die Herden gut zu betreuen. Dann seien sie gesund und wenig interessant für die Geier. Auch müssten Tiere, die frisch geworfen hätten und deshalb geschwächt seien, besser geschützt werden.

Lösungen finden

Kürzlich ging die Vernehmlassung zur neuen Jagdverordnung zu Ende. Die Vereinigung zum Schutz von Wild- und Nutztieren vor Grossraubtieren im Kanton Bern verlangt beispielsweise in ihrer Stellungnahme, dass Nutztiere, die «nachweislich von Gänsegeiern angegriffen wurden oder durch Steinschlag umgekommen sind», entschädigt werden müssten. Der Bauernverband verlangt Ähnliches: Er will für alle auf einer Alp «getöteten, verletzten oder vermissten Nutztiere» eine Vergütung. Zudem solle die Beweislast umgekehrt werden. Dann müsste die Wildhut nicht mehr beweisen, dass ein Grossraubtier ein Tier gerissen hat, sondern dass dem nicht so ist. Eine realitätsfremde Forderung: Jedes Jahr gehen viel mehr Schafe auf der Alp verloren, als Wolf oder Luchs erlegen.

Pro Natura hat eine Zusammenstellung publiziert: Im letzten Jahr wurden rund 146 000 Schafe und Ziegen gesömmert, 3431 gingen verloren oder kamen um, davon wurden nur 806 gerissen. Es wurden also nur 0,55 Prozent Opfer eines Grossraubtiers, 2,3 Prozent starben sonst wie; sie stürzten zum Beispiel ab oder wurden von einem Blitz erschlagen. Früher gingen tendenziell noch viel mehr Schafe verloren, weil man sie auf die Alp brachte und sich danach oft wochenlang niemand um sie kümmerte. Seit der Wolf umgeht, wird mehr auf die Herden geachtet. Das dient den Schafen, weil sie besser betreut sind.

Auf der besagten Alp gab es keinen Herdenschutz. Die Alp gilt als unschützbar: Sie ist zu klein, um einen Hirten zu beschäftigen. Aufgrund der Topografie kann man sie nicht einzäunen. Schutzhunde zu halten, geht auch nicht, weil Kletter:innen gerne in den Fluhen unterwegs sind und ein Wanderweg über die Alp führt.

Die einen glauben, mit der Regulierung der Gänsegeier liesse sich das Problem lösen. Das geht aber nicht: Der Geier ist geschützt und darf nicht gejagt werden. Eine ideale Lösung ist nicht leicht zu skizzieren. Der Kanton Graubünden beschäftigt einen Ornithologen, der gezielt zu den Viehhalter:innen geht und sie über die Gänsegeier aufklärt. Er ist für sie ansprechbar, falls sich ein Problem auftut. Während zweier Jahre hatte der Kanton unter bestimmten Umständen auch für vermisste Tiere entschädigt. Das Pilotprojekt wurde jedoch wieder eingestellt, weil die Finanzierung fehlte.

Grundsätzlich sind die Landschaften für die Geier zu aufgeräumt. Tote Nutztiere dürfen nicht liegen bleiben. Warum eigentlich nicht? Warum nicht an ausgewählten Orten einen Kadaver sein lassen? Warum nicht in Gegenden, in denen sich Geier bevorzugt aufhalten, eine Entschädigung für verschwundene Tiere zahlen, sofern die Herde gut betreut respektive geschützt war? Nicht aus dem Wolfstopf, sondern aus einem neuen Geiertopf. Als Obolus für den Schutz dieser phänomenalen Tiere. Unkonventionelle Wege suchen. Mit den Leuten reden, die die Alpen bewirtschaften und sich zeitweilig von den Geiern bedrängt fühlen. Denn alle, selbst die, die sich skeptisch äusserten, sagten im Verlauf der Gespräche: «Eigentlich ist der Geier ein sehr schöner, beeindruckender Vogel.»

Für diesen Text hat die WOZ mit Ortsansässigen, dem Schafhalter, mehreren Geierexpert:innen und Fachleuten für Grossraubtiere der Kantone Bern und Graubünden gesprochen.

Benutzte Literatur: Hansruedi Weyrich, Hansjakob Baumgartner, Franziska Lörcher, Daniel Hegglin: «Der Bartgeier. Seine erfolgreiche Wiederansiedlung in den Alpen». Haupt Verlag. Bern 2021. 248 Seiten. 48 Franken. Stiftung pro Bartgeier: www.bartgeier.ch. Vogelwarte Sempach: www.vogelwarte.ch.

junger Gänsegeier im Anflug
Drei- bis vierjähriger Gänsegeier im Anflug. Mit scharfem Blick erkennt er ein verendetes Tier von weit oben.
junger Gänsegeier im Anflug
Drei- bis vierjähriger Gänsegeier im Anflug. Mit scharfem Blick erkennt er ein verendetes Tier von weit oben.