Einbürgerungen: Der grosse Schlussspurt

Nr. 36 –

Schafft es die Demokratie-Initiative für erleichterte Einbürgerungen ins Ziel? Während Lokalkomitees mit riesigem Elan sammeln, üben sich die Gewerkschaften und Parteien in Zurückhaltung.

Tatiana Cardoso und Walter Brunner
Exponent:innen einer breiten Basisbewegung: Tatiana Cardoso und Walter Brunner sammeln in St. Gallen Unterschriften für die Demokratie-Initiative.

Arbër Bullakaj plagen manchmal schlaflose Nächte. «Was ist, wenn wir es nicht schaffen?», fragt er sich jeweils, wenn er wach liegt. Um sich in der nächsten Sekunde zu überlegen: «Was können wir noch tun, damit wir es schaffen?» Bullakaj ist Kopräsident der Aktion Vierviertel, die im Mai 2023 die Demokratie-Initiative lanciert hat. Bis Ende Oktober will sie 120 000 bis 130 000 Unterschriften zusammenbringen, damit es sicher zur Einreichung von 100 000 beglaubigten reicht.

Das Volksbegehren ist eine Besonderheit: Erstmals seit der «Mitenand-Initiative» von 1981, also seit zwei Schweizer Politikgenerationen, stellt es eine progressive Forderung in der Migrationspolitik ins Zentrum: Wer sich seit fünf Jahren in der Schweiz aufhält, soll einen Anspruch auf Einbürgerung haben – sofern die Person über Grundkenntnisse einer Landessprache verfügt, nicht zu einer längeren Haftstrafe verurteilt wurde und nicht die öffentliche Sicherheit des Landes gefährdet. Ein mutiger, befreiender Wurf gegenüber den heutigen Bestimmungen, die von einer doppelt so langen Anwesenheit bis zur Einbürgerung ausgehen und von kantonaler und kommunaler Willkür geprägt sind. Ein Viertel der Bevölkerung hat derzeit kein Schweizer Bürgerrecht, der Name «Aktion Vierviertel» gibt das Ziel vor.

Noch etwas macht die Initiative speziell: Sie wurde von keiner Partei, NGO oder Gewerkschaft lanciert, sondern von einem Verein ohne grosse Finanzmittel, der zu einer schweizweiten Bewegung mit mehr als zwanzig Lokalkomitees angewachsen ist, in Zürich, Basel und Genf, aber auch in Schwyz, Olten oder Zofingen. «Bei den Leuten, die sich schon länger mit dem Thema befasst haben oder die persönlich davon betroffen sind, haben wir offene Türen eingerannt», sagt Bullakaj.

Harziger sei der Start bei den linken Institutionen verlaufen. «Immer wieder haben wir angeklopft, immer wieder wurden wir vertröstet, andere Themen seien gerade wichtiger.» Nach vier Jahren Planungs- und Vorbereitungszeit hatten die Mitglieder der Aktion Vierviertel genug davon, sich länger hinhalten zu lassen. «Wir leben von Freiwilligenarbeit. Da muss man irgendwann eine Aktivität bieten, sonst springen die Leute ab», meint Bullakaj. Die Sammlung startete.

Mit Erfolg: 100 000 Unterschriften sind bisher zusammengekommen. Rund 80 000 davon haben die Vereinsmitglieder gesammelt, die übrigen stammen von Parteien, Gewerkschaften oder NGOs. Auf eine Zusammenarbeit mit Sammelfirmen, die diese Woche wegen gefälschter Unterschriften in die Kritik gerieten, verzichtete man bewusst. «Die Quote der Eigenleistung ist hoch, das Sammeln bedeutet aber einen Kraftakt», sagt Bullakaj. Noch ist unklar, ob es reicht. Mitte August verschickte der Verein ein Warnmail an seine Unterstützer:innen: «Ohne eure Hilfe werden wir es nicht schaffen.» Der Aufruf habe Schwung gebracht, sagt Bullakaj. «Die sommerlichen Sammelwochenenden waren unsere erfolgreichsten.»

«Du bist hier nicht daheim»

Tatiana Cardoso und Walter Brunner sind beide im St. Galler Lokalkomitee aktiv. Cardoso, 28 Jahre und eingebürgert, und Brunner, 77 Jahre und Schweizer gemäss Pass seit Geburt, stehen mit ihren biografischen Eckdaten für die Breite der Vierviertel-Bewegung. Cardosos Eltern kamen als Saisonniers aus Portugal in die Schweiz, der Vater arbeitete auf dem Bau, die Mutter in der Fabrik. Noch immer erinnert sich Cardoso daran, wie ihr Vater sie ermahnte, sich bloss nicht politisch zu äussern: «Du bist hier nicht daheim, du hast hier nichts zu sagen.»

Cardoso fühlte sich 2014 bei der Abstimmung über die «Masseneinwanderungsinitiative» der SVP allerdings durchaus daheim und mitgemeint, in einem negativen Sinn. Sie begann, sich politisch zu engagieren, liess sich einbürgern. «Das Bürgerrecht bringt ja nicht nur demokratische Mitbestimmung. Es beendet auch die Unsicherheit, die Menschen als Ausländer:innen beispielsweise bei der Job- oder Wohnungssuche erlebten», sagt Cardoso, die in St. Gallen als Fachspezialistin «Familie, Kind und Gender» arbeitet und derzeit für die SP fürs Stadtparlament kandidiert.

Der pensionierte Sozialarbeiter Walter Brunner hat sich früher beim örtlichen Antirassismustreffpunkt CaBi engagiert und ist auch für die SP aktiv. Die Demokratie-Initiative überzeugte ihn von Beginn weg. «Das Bürgerrecht muss doch ein Recht für alle sein und nicht in einem Willkürakt vergeben werden, bei dem sich die Leute runterknien und es sich förmlich erbetteln müssen», beschreibt er seine Motivation. Es habe ihn schon immer gestört, dass andere nicht über die Rechte verfügten, die für ihn selbstverständlich seien. Gerade letztens, im Gespräch mit seinem kurdisch-syrischen Coiffeur, sei ihm wieder aufgefallen, was alles mit dem Schweizer Pass verbunden sei: die Reisefreiheit etwa. Dem Coiffeur ist es nicht möglich, die Mutter zu besuchen, weil er nicht über die richtigen Papiere verfügt.

Von unten nach oben

Brunner und Cardoso koordinieren mit zwei weiteren Mitstreiterinnen das St. Galler Lokalkomitee. Das bedeutet viel Strassenpräsenz: Jeden zweiten Samstag ist man in der Innenstadt unterwegs, dazu wird an Festivals oder Demos sowie im Bekanntenkreis gesammelt. Was sind die Reaktionen? Rassistische Abwertungen, wonach Ausländer:innen hier doch sowieso nichts zu suchen hätten, seien beim Sammeln immer wieder zu hören, berichtet Cardoso. «Umso mehr freut es mich, wenn ich einen Unentschlossenen von unserem Anliegen überzeugen kann.» Am häufigsten gelinge ihr das, wenn sie von der eigenen Erfahrung mit dem schikanösen Einbürgerungsprozedere erzähle. «Viele sagen danach, sie hätten sich nicht vorstellen können, dass die Politik derart willkürlich und unfair ist. Das Unwissen über die Einbürgerungspraxis ist unter den Schweizer:innen erschreckend gross.»

Brunner ergänzt, mit der Zeit habe man auch ein Auge dafür, wer am ehesten unterschreibe. Besonders beliebt sei die Initiative bei Familien mit Kindern und bei älteren Frauen. «Die zeigen die grösste Offenheit und am meisten Empathie.» Dass er auch bei schlechtem Wetter draussen unterwegs sein muss, stört den Rentner nicht. «So nützlich unsere Chatgruppen zur Koordination sind: Politik beginnt mit zwischenmenschlichen Begegnungen. Diese Erkenntnis müssen wir als Linke wieder mehr pflegen, wenn wir vorwärtskommen wollen.» Auch Cardoso lobt die Basisbewegung der Aktion Vierviertel, die von unten nach oben wächst. «Nur so ist eine gesellschaftliche Veränderung möglich.»

Doch noch ein Effort

So stark die Dynamik auf der Strasse ist, so zurückhaltend wirken die Leitungen der Gewerkschaften und Parteien. Unia-Präsidentin Vania Alleva sagt auf Anfrage: «Die Demokratie-Initiative ist ein total wichtiges Anliegen.» Doch über den Zeitpunkt der Lancierung habe man andere Einschätzungen gehabt als die Aktion Vierviertel, «angesichts der bevorstehenden Rentenabstimmungen und Lohnmobilisierungen sowie wegen der nicht genügend konsolidierten Unterstützungsallianz». Deshalb habe sich die Unia entschieden, «die Initiative im Grundsatz zu unterstützen und sie in unseren Zeitungen zu bewerben, aber keine feste Sammelquote zu übernehmen». Entsprechend hat die Gewerkschaft bisher wenige Tausend Unterschriften beigesteuert.

Steht hinter dem Entscheid auch die Irritation, dass Dritte die Initiative ergriffen haben? Hat die Unia, die gerne behauptet, sie sei die grösste Migrant:innenorganisation der Schweiz, den Kampf für gleiche Rechte verschlafen? Alleva will das nicht gelten lassen: «Die Mehrheit der Delegierten in unseren Entscheidungsgremien hat einen Migrationshintergrund oder gar keinen Schweizer Pass. Auch die meisten von ihnen wollten die Prioritäten damals anders setzen und hätten sich mehr Zeit gewünscht.» Im Schlussspurt der Unterschriftensammlung wollen die Unia-Zentrale, ein Teil der Regionen und die Interessengruppen jetzt nochmals auf der Strasse sammeln gehen – weiterhin ohne verbindliche Quotenzusage.

Ähnlich tönt es bei SP-Kopräsident Cédric Wermuth: Die Phase der Unterschriftensammlung im Umfeld der Wahlen, laufenden Referenden und Abstimmungen sei für die Partei schwierig. Deshalb und um die Westschweiz besser einzubinden, hätten sie sich einen anderen Zeitplan gewünscht. Die SP sage aus Erfahrung nur Quoten zu, die sie auch erreiche. Sie habe in diesem Fall 7500 Unterschriften versprochen und diese Zahl mit 10 000 bereits übertroffen. Auch Wermuth betont die Bedeutung der Initiative: «Der Ausschluss eines Viertels der Bevölkerung von der Mitbestimmung ist ein demokratiepolitischer Skandal.» Gerade in Zeiten eines erstarkenden Rechtspopulismus und -extremismus sei es umso wichtiger, sich nicht dem Diskurs anzudienen, «sondern eigene, fortschrittliche Vorschläge zu bringen, wie das die Aktion Vierviertel macht». Die SP will nun noch einen Effort lancieren und ihre Mitglieder auf allen Kanälen der Partei zum persönlichen Sammeln aufrufen.

Selbstkritisch gibt sich Lisa Mazzone, die Präsidentin der Grünen, die selbst im Vorstand der Aktion Vierviertel aktiv ist. «Ich hätte mir gewünscht, dass es von uns Grünen, aber auch von der SP und den Gewerkschaften mehr Unterstützung gibt.» Klar seien die Kräfte immer beschränkt, wolle man nicht zu viele Unterschriften versprechen. «Doch die Initiative bringt einen dringend nötigen Paradigmenwechsel für die Demokratie.» Die Grünen haben deshalb im Juni ihre Quote erhöht, von 5000 auf 8000 zugesagte Unterschriften. Alleva, Wermuth und Mazzone verweisen auch darauf, dass die Aktion Vierviertel an vielen Orten vom Einsatz ihrer Partei- oder Gewerkschaftsmitglieder profitiere – in Bern, wo die Rekordzahl der Unterschriften gesammelt wurde, sind zahlreiche Grüne aktiv, oder eben in St. Gallen viele SP-Mitglieder. Besonders harzig läuft es in der Westschweiz. Mazzone, die in Genf wohnt, interpretiert das so: «Hier ist die Willkür bei den Einbürgerungen geringer – und damit das Problem weniger skandalisiert. Aber es ist auch hier vorhanden.»

Wie eine zweite Einbürgerung

Arbër Bullakaj kennt die Argumente zur Genüge, warum die grossen linken Organisationen nicht jetzt, aber vielleicht später mit ihrer Zugkraft helfen wollten. Eingeleuchtet haben sie ihm nie so richtig. «Manchmal kommt mir das alles vor wie eine zweite Einbürgerung: Wir müssen uns die Unterstützung erneut hart verdienen, damit wir nicht nur als Bürger:innen, sondern auch als Bewegung in der Schweizer Politiklandschaft willkommen sind.» Einen positiven Aspekt habe es immerhin, wenn es die Aktion Vierviertel am Ende fast alleine geschafft hätte: «Wir haben eine breite zivilgesellschaftliche Bewegung aufgebaut, die in einer Abstimmungskampagne den Unterschied ausmachen kann.»

Bis es so weit ist, wollen die Bürgerrechtler:innen nochmals kräftig sammeln. «Ich bin zuversichtlich, dass wir es schaffen», meint Tatiana Cardoso. «Die Leute sind spürbar aktiver geworden», stellt Walter Brunner fest. «Alles andere wäre eine Langzeitenttäuschung», denkt sich Arbër Bullakaj jeweils in seinen schlaflosen Nächten.

demokratie-volksinitiative.ch