Arachnologie: Was sehen Spinnen beim Träumen?
Spinnen haben ein schlechtes Image. Jan Mohnhaupt will unsere Beziehung zu den Achtbeinern verbessern. Sein Buch zeigt, wie endlos faszinierend unser häufigstes Haustier ist.
Der Spinnenforscher bekommt immer dieselbe banale Frage gestellt: Stimmt es, dass jeder Mensch im Laufe seines Lebens mehrere Hundert Spinnen im Schlaf verschluckt? Peter Jäger leitet die Arachnologische Sammlung am Senckenberg-Forschungsinstitut in Frankfurt am Main – und verweist das unbewusste Spinnenverschlucken durch Menschen ins Reich der Legenden: Die Tiere sind empfindlich, was Luftschwingungen angeht. Unser Atemzug dürfte für sie so unangenehm sein wie für uns ein Sturm.
Spannender findet Jäger ohnehin die Frage, was uns Spinnen nützen. Seine Antwort: Ohne sie würden wir Menschen nach wenigen Tagen vor lauter Insekten ersticken. Schweizer Forscher berechneten 2017, dass alle Spinnen der Erde zusammen jedes Jahr bis zu 800 Millionen Tonnen Insekten und andere Kleintiere vertilgen. Im Vergleich: Die rund acht Milliarden Menschen weltweit verzehren jährlich rund 400 Millionen Tonnen Fleisch.
Immer wild geblieben
Zusammengetragen hat diese erstaunlichen Fakten der deutsche Journalist und Autor Jan Mohnhaupt in seinem Buch «Von Spinnen und Menschen. Eine verwobene Beziehung». Der eingangs erwähnte Experte Peter Jäger ist auch Taxonom, er beschreibt und benennt neue Arten. Ihm verdankt Heteropoda davidbowie aus der Familie der Riesenkrabbenspinnen ihren Namen. Sie kommt in den Regenwäldern von Malaysia bis Sumatra vor. Das gelb-schwarze Farbkleid der männlichen Tiere erinnerte den Spinnenforscher an Bowies Alter Ego Ziggy Stardust. Es gibt aber auch Spinnen, die dank ihm die Namen von Komiker Helge Schneider, Sänger Udo Lindenberg und Klimaaktivistin Greta Thunberg tragen – Letzterer ist sogar eine ganze Gattung auf Madagaskar gewidmet. Für diesen Populismus in der Namensgebung hat Jäger auch Kritik geerntet, aber ihm ist wichtig, Aufmerksamkeit zu schaffen, um auf das Artensterben hinzuweisen. Erst schätzungsweise zehn Prozent der Spinnen, die auf der Erde existieren, sind benannt.
Mohnhaupt versteht sich als Anwalt, er möchte in seinem Buch herausfinden, warum Spinnen ein schlechtes Image haben. Woher kommen die vielen Vorurteile gegen die haarigen Tiere? Bienen werden gern als positives Beispiel genannt, wenn es darum geht, den Fleiss von Tieren herauszustreichen. Aber sind Spinnen nicht ähnlich emsig, wenn es um das Weben komplexer und kunstvoller Netze geht? Spinnen sind unsere häufigsten Haustiere, keine Wohnung ist vor ihnen sicher, ob wir wollen oder nicht. «Genau genommen leben nicht sie bei uns, sondern wir bei ihnen. Sie waren lange vor uns da, lebten bereits in den Höhlen, die unsere Urahnen einst aufsuchten, um sich vor Kälte und Nässe, vor Frost und Feinden zu schützen», sagt Mohnhaupt, der in seinem erhellenden Buch auch einige hartnäckige Mythen aus dem Weg räumt.
Spinnen lassen sich nicht vermenschlichen, so eine These, warum wir selten eine Nähe zu ihnen aufbauen. Sie sind immer Wildtiere geblieben, ohne Anzeichen einer Domestikation. Wir wissen nicht einmal, wie sie uns Menschen sehen. Sie spüren die Erschütterung, nehmen die Welt über die Vibration ihrer Netze, weniger über die Augen wahr. Vielleicht sind wir einfach nur ein lästiger Schatten für sie, sinniert Mohnhaupt. Für uns Menschen waren Spinnen und ihre Netze stets eine willkommene Projektionsfläche. Trotz aller Bewunderung für die geometrische Struktur galten Spinnweben seit der Antike meist als schlechtes Omen. Im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit diente das Spinnennetz als Zeichen für Intrige und Macht, in dem man sich verfangen kann. Die Nationalsozialist:innen nutzten die blutrünstige Spinne als antisemitisches Symbol für eine jüdische Weltverschwörung.
Kuss der Spinnenfrau
Dass einige Spinnenweibchen ihre Partner nach der Paarung fressen, wurde in der Populärkultur zu den misogynen Bildern der Femme fatale und des Vamps stilisiert. Mohnhaupt widmet dem Thema der blutsaugenden und männermordenden «Spinnenfrau» in Film und Literatur ein ganzes Kapitel, auch um zu zeigen, wie selbstbestimmte weibliche Sexualität als bedrohlich wahrgenommen und abgewertet werden musste. Aber auch hier wurde nicht nur den Frauen, sondern auch den Spinnen unrecht getan. Die meisten Fälle von tödlichem Spinnensex stammen aus Beobachtungen in menschlicher Haltung. Sie haben oft den simplen Grund, dass die Männchen nicht fliehen konnten, weil die Boxen zu klein waren. Falsch ist auch das Bild, dass Spinnen ihren Opfern das Blut aussaugen. Durch ihre kleine Mundöffnung können sie nur flüssige Nahrung aufnehmen. Daher injizieren sie ihrer Beute ein Verdauungssekret, das deren Körperinneres auflöst. Das macht es zwar nicht appetitlicher, aber Vampire sind Spinnen trotzdem keine.
Auch bei Sigmund Freud, dem Vater der modernen Psychologie, kommen Spinnen als negative Vorboten zum Einsatz: Er stempelte sie im Traum als die böse, vom Kind gefürchtete Mutter ab. Dabei haben Spinnen einen ausgeprägten Mutterinstinkt. Wolfsspinnenweibchen tragen ihren Nachwuchs auf dem Rücken mit sich herum. Andere Arten bilden Mütterkolonien, in denen der Nachwuchs gemeinsam aufgezogen wird – eine Art Spinnen-Patchwork-Familie. Die Künstlerin Louise Bourgeois wiederum feierte die Spinne als beschützende gute Mutter: «Maman» heisst ihr bekanntestes Werk, eine neun Meter hohe und acht Tonnen schwere Spinnenskulptur, die auf acht Beinen aus Stahl steht und einen Sack mit Eiern aus Marmor trägt.
Noch ein interessanter Fakt über Spinnen: Sie können wahrscheinlich träumen. Man hat beobachtet, dass ihre Beine zucken und die Sehkanäle sich bewegen, das deutet auf REM-Phasen hin, in denen Menschen und andere Säugetiere träumen. Natürlich geht es im Buch auch viel um die handwerklichen Qualitäten der Spinnen und ihre kunstvollen Netze: Ihr Faden ist fünfzig bis hundert Mal dünner als ein menschliches Haar und zugleich elastischer. Er liesse sich auf eine Länge von achtzig Kilometern dehnen, bevor er reisst. Wäre der Faden einen Zentimeter dick, könnte er bis zu acht Tonnen Last tragen. Deshalb versucht die US-Armee seit langem, schusssichere Westen aus künstlicher Spinnenseide herzustellen – bislang allerdings ohne Erfolg. Auch das mag für Menschen befremdlich sein: Anders als bei der Seidenraupe ist es bei Spinnen nie geglückt, ihre Fäden kommerziell zu nutzen.
Arabella im Weltall
Auch im Weltall waren Spinnen schon. 1973 befanden sich Anita und Arabella an Bord der Skylab-3-Mission. An den beiden weiblichen Gartenkreuzspinnen wollte man studieren, ob Spinnen auch ohne Gravitation ihre Netze bauen können – und wie diese dann aussehen. Die beiden Exemplare passten sich erstaunlich schnell den Gegebenheiten an. Untersuchungen ergaben, dass die Fäden in der Schwerelosigkeit deutlich feiner waren als auf der Erde. Sie schienen gespürt zu haben, dass sie ohne Gravitation weniger Material benötigten. Versuche auf der Erde haben zudem gezeigt, dass Spinnen das Fünffache an Fliehkräften überleben, die auf Astronaut:innen einwirken. Spinnen sind Anpassungsweltmeister – auch im All.
Mohnhaupts Buch ist die beste Therapie gegen Arachnophobie: Je mehr man über Spinnen weiss und über die vielen Vorurteile, mit denen sie zu kämpfen haben, desto mehr Sympathie entwickelt man für sie. Spinnen sind nicht einfach schwarz und haarig, sie sind unglaublich facettenreich und faszinierend. Und sie brauchen unseren Schutz. Vielleicht sollten wir uns mit unserem häufigsten Haustier endlich anfreunden. Oder Spinnen zumindest den Respekt zukommen lassen, der ihnen gebührt.
