Wahlen in Frankreich: Hier ist noch vieles möglich

Nr. 26 –

Vom Besetzer bis zur Jungfunktionärin: Die Linke rauft sich zusammen, um den Rechtsrutsch zu bekämpfen. Kann das gelingen? Drei Schlaglichter auf eine erstaunliche Dynamik.

Transparent an einem von unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden besetzten Haus im 11. Arrondissement von Paris
«Die Zeiten sind schwer»: Transparent an einem von unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden besetzten Haus im 11. Arrondissement von Paris.

Unter gewöhnlichen Umständen sind drei Wochen nicht genug, um einen schlagkräftigen Wahlkampf zu lancieren. Aber die Umstände sind nicht gewöhnlich, seit Emmanuel Macron für den 9. Juni Neuwahlen ausgerufen hat.

Innert kürzester Zeit haben sich daraufhin die vier grössten linken Parteien unter dem Namen Nouveau Front populaire (NFP) auf ein Programm geeinigt. Und vor allem: auf das strategische Vorgehen in jedem der 577 Wahlkreise Frankreichs. In allen soll nur ein:e einzige:r Kandidat:in der beteiligten Parteien – des Parti socialiste (PS), der linken Protestpartei La France insoumise (LFI), des Parti communiste français und der grünen Les Écologistes – antreten.

Und nicht nur Parteien schlossen sich der Volksfront an. In Paris sind vielerorts die Wände mit Aufrufen zur Wahl zugesprayt. Jeden Abend finden mehrere politische Veranstaltungen statt. Die Gewerkschaften, die sich traditionell aus Wahlen heraushalten, rufen ebenso zur Wahl des NFP auf wie diverse linke Splittergruppen, etwa der Pariser Ableger der antifaschistischen Jeune Garde. Zehntausende gingen in den letzten Wochen auf die Strasse, um gegen das Erstarken des Rassemblement National (RN) zu protestieren. Ein Anflug von Hoffnung liegt in der Luft.

Rechte Politik aus der Mitte

Um wie viel es geht, zeigt sich etwa vergangene Woche im als links geltenden 11. Arrondissement. Hier haben unbegleitete minderjährige Asylsuchende ein Haus besetzt. Derzeit werden im Vorfeld der Olympischen Spiele in der ganzen Stadt behelfsmässige Zeltlager geräumt, in denen Obdachlose untergekommen sind, viele von ihnen Geflüchtete. «Wir fordern, dass wir in der Stadt bleiben können, dass wir zu essen und ein Dach über dem Kopf haben», sagt ein Sechzehnjähriger, der seinen Namen nicht nennen will, am Eingang der Besetzung. Bevor er hier einzog, hatte er gemeinsam mit den anderen Besetzer:innen im Parc de Belleville geschlafen. Das Camp war im April aufgelöst worden. Und auch die jetzige Besetzung ist akut von der Räumung bedroht. Gerade findet eine öffentliche Versammlung vor dem Eingang statt. «L’heure est grave», heisst es auf einem Transparent. Das Rassemblement National fordert in seinem Programm unter anderem die «systematische Ausschaffung» von Sans-Papiers.

Der junge Besetzer sagt, er befürworte den Nouveau Front populaire, sei aber auch enttäuscht, dass in dessen Programm die minderjährigen Asylsuchenden nicht explizit erwähnt würden. Laut einer Erhebung vom April haben in Frankreich fast 3500 von ihnen keine feste Unterkunft. Ende des letzten Jahres beschloss die Regierung eine weitere heftige Verschärfung des Asyl- und Migrationsrechts – mit Unterstützung des Rassemblement National. Vorgesehen sind etwa erleichterte Ausschaffungen und beschleunigte Verfahren. Manche der Artikel hat das Verfassungsgericht kassiert; den Rest setzte Emmanuel Macron Ende Januar in Kraft.

Die Wahlen in Frankreich sind auch deshalb so relevant, weil hier gerade ein eigentlich naheliegendes Rezept gegen das europaweite Erstarken der extremen Rechten geprobt wird. Anders als anderswo, wo die etablierten Parteien versuchen, die Rechte zu schwächen, indem sie ihre Positionen übernehmen, wagt die französische Linke das Gegenteil: ein pointiertes Programm. Darauf bezieht sich auch der Name: Den ursprünglichen Front populaire bildete die Linke in den dreissiger Jahren als Reaktion auf Faschismus und Nationalsozialismus. 1936 erlangte er für zwei Jahre die Macht.

Unabhängig vom etwaigen Erfolg an der Urne zeigt die Strategie bereits Wirkung. Emmanuel Macron, ironischerweise einst angetreten, um die politische Polarisierung zu überwinden, greift die Linke mit Rhetorik aus der rechten Mottenkiste an, etwa indem er ihr vorwirft, Migrant:innen bevorzugt behandeln zu wollen. Laut einer Recherche der «Financial Times» erwägen bereits mehrere Führungskräfte grosser französischer Firmen, im Zweifelsfall das Rassemblement National der Linken vorzuziehen. Die marktliberalen Apostel, die sich gern als stärkstes Bollwerk gegen den Rechtsextremismus inszenieren, werden als dessen Wegbereiter demaskiert.

Es sei die grösste linke Mobilisierung seit vielen Jahren, sagt Nolwenn Honoré; sie habe so etwas noch nie erlebt. Die 22-Jährige verantwortet für die Jeunes Socialistes, die Jungpartei des PS, die Koordination der Region Île-de-France. Als Macron ankündigte, er werde das Parlament auflösen, sei sie in Tränen ausgebrochen. Jetzt hebt sie die vielen Gemeinsamkeiten innerhalb des NFP hervor. «Die Differenzen waren nie so gross, wie es die Medien behauptet haben», sagt Honoré. «Es geht etwa um die Frage, ob man sich mit dem Rentenalter 62 begnügen oder auf dem Rentenalter 60 bestehen soll.» Der PS sei kompromissbereiter als La France insoumise. Die Kommunistische Partei dagegen sei wenig progressiv in gesellschaftlichen Fragen, würde sich etwa gegen den Vegetarismus und für die Kernkraft aussprechen, was wiederum den Grünen missfalle. Aber in der Sozialpolitik sei man sich weitgehend einig.

Gute Chancen für die Linke

Sogar der Spitzenkandidat der Sozialdemokrat:innen bei den Europawahlen, Raphaël Glucksmann, der am rechten Rand der Partei politisiert, hat jüngst dazu aufgerufen, das linke Bündnis zu wählen – wenn auch zähneknirschend. Denn in den letzten Monaten sind die Konflikte unter den linken Parteien immer wieder eskaliert. Glucksmann wurde unlängst an einer Demo von Linken ausgebuht und beschimpft, wofür dieser La France insoumise verantwortlich machte. Erbitterter Wahlkampf – auch das war Teil von Emmanuel Macrons Kalkül: Anders als die nationalen Parlamentswahlen, die jetzt stattfinden, war die vergangene Europawahl eine Proporzwahl; die linken Parteien traten einzeln an. Macron dürfte darum geglaubt haben, dass sie ihre Streitereien nicht schnell genug beilegen können.

In seinem Programm besinnt sich der Nouveau Front populaire auf die Gemeinsamkeiten. Dieses sieht etwa die sofortige «Einfrierung» der Preise von überlebensnotwendigen Gütern vor, den Stopp von Macrons Rentenreform, einen massiven Ausbau des öffentlichen Wohnungsbaus, eine Erhöhung des Mindestlohns auf 1600 Euro, aber auch etwa die Einrichtung einer nationalen Seenotrettungsagentur. «Wir haben ein gutes Programm, das ist das Wichtigste», sagt Nolwenn Honoré.

Dass die Linke, obwohl sie in den meisten Umfragen rund sechs Prozentpunkte hinter dem Rassemblement National zurückliegt, erhebliche Gewinne erzielen könnte, liegt am französischen Wahlsystem. Im ersten Wahlgang treten in jedem Wahlkreis mehrere Kandidat:innen an. Um direkt gewählt zu werden, brauchen sie eine absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Dieses Ziel erreichen jeweils nur wenige Kandidat:innen. In den meisten Kreisen gibt es also einen zweiten Wahlgang. Dazu dürfen die beiden Bestplatzierten sowie allfällige andere Kandidat:innen, die in der ersten Runde von mehr als 12,5 Prozent aller Wahlberechtigten gewählt wurden, antreten.*

Dann reicht ein relatives Mehr, um gewählt zu werden. Erreicht die Linke den zweiten Durchgang, dürfte sie jeweils gute Chancen haben: gegen das RN, weil Wähler:innen von Macrons Bündnis Ensemble auf Links umschwenken dürften, um die Rechte zu verhindern; gegen die Macronist:innen, weil Protestwähler:innen diese verhindern wollen.

Schon bei den letzten Wahlen 2022 trat die Linke mit einem Bündnis an. Die Stimmung war aber wenig euphorisch, was sich auch daran zeigte, dass damals fast hundert sogenannte «dissidents» antraten; linke Kandidat:innen also, die gegen den Willen des Bündnisses kandidierten. Heuer sind es weniger als zehn, die allerdings für viel Diskussionen sorgen.

Marktplatz der Ideen

Auf der Place Édith Piaf ist am Mittwochmorgen Markt. Und es kämpfen nicht nur Dutzende Stände um die Aufmerksamkeit der Passant:innen, sondern auch zwei konkurrierende linke Wahlkampfteams, die sich nur wenige Meter voneinander entfernt aufgestellt haben. Ausgerechnet hier, im als links geltenden 20. Arrondissement, gibt es eine «Dissidentin». Der Wahlkreis wurde in den Bündnisverhandlungen La France insoumise zugesprochen, wie schon bei den letzten Wahlen. Gewählt wurde damals Danielle Simonnet.

Simonnet ist gut gelaunt, wird von allerlei Passant:innen erkannt und gegrüsst. Es gehe ihr gut, sagt sie, «trotz der emotionalen Achterbahnfahrt der letzten Tage». Als LFI bekannt gab, wer in ihrem Namen zu den Wahlen antreten würde, fehlte Simonnet überraschend auf der Liste. Sie spricht von einer «Säuberungsaktion» – und tritt jetzt trotzdem noch einmal an.

Offiziell hat LFI Simonnet und vier weitere amtierende Abgeordnete nicht mehr aufgestellt, um die Gewerkschaften innerhalb der Bewegung zu stärken. Der tatsächliche Grund dürfte ein anderer sein. Simonnet hat in der Vergangenheit, so wie auch die anderen fallen gelassenen Politiker:innen, die Parteigrösse Jean-Luc Mélenchon öffentlich kritisiert. Dem 72-Jährigen wird immer noch viel Macht in der Bewegung nachgesagt, die er einst mitgegründet hat.

Mélenchons Rhetorik ist scharf, sein Führungsstil zu Recht umstritten. Und er vertritt teils haarsträubende aussenpolitische Positionen. Als Russland 2014 die Krim annektierte, begrüsste er das Vorgehen Putins auf seinem Blog. Erst nach dem Angriff Russlands auf die gesamte Ukraine revidierte er einige seiner Aussagen. Noch 2019 war er zudem ein ausgesprochener Unterstützer des venezolanischen Regimes – zu einem Zeitpunkt, als längst Zehntausende aus dem Land geflohen waren. Der grösste Konfliktpunkt aber ist Mélenchons Haltung im Israel-Palästina-Konflikt: Er weigert sich, den Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober als Terrorismus zu bezeichnen.

Das tut Danielle Simonnet. «Ich habe das auch immer offen gesagt.» Ebenso kritisierte Simonnet mehrmals den aggressiven Politikstil von LFI. «Es kann nicht sein, dass wir immer nur spalten und die anderen beleidigen – wir müssen die Linke hinter uns vereinen.»

Im Programm des NFP wurden nun die Spitzen der aussenpolitischen LFI-Positionen gebrochen. Frankreich soll sich etwa für eine Zweistaatenlösung einsetzen und Kriegsverbrechen beider Seite ahnden. Der 7. Oktober wird als Terrorangriff bezeichnet. Und auch von Sympathien für Putin ist keine Rede mehr. Russische Oligarchengelder sollen beschlagnahmt, die Schulden der Ukraine erlassen werden.

«Mehr als ein blosses Wahlbündnis»

Dass Mélenchon «diktatorische» Züge habe, räumt auch Céline Verzeletti ein, die nur wenige Meter neben Simonnet steht und ebenfalls Wahlkampf macht. Sie ist Gewerkschafterin und ersetzt Simonnet als offizielle LFI-Kandidatin im 15. Wahlkreis. Verzeletti sagt: «Es ist normal, dass in politischen Bewegungen und Parteien das Programm und das Ziel immer wichtiger sind als die Einzelpersonen.» Man müsse Simonnet nicht aufstellen, bloss weil sie schon einmal gewählt wurde: «Ist es politisch sinnvoll, wenn wir immer davon ausgehen, dass Abgeordnete quasi auf Lebenszeit gewählt sind?»

Die anderen Parteien halten sich aus dem Konflikt heraus. Als Mélenchons «Säuberung» wenige Tage nach der linken Einigung publik wurde, fürchteten Kommentator:innen, dass das Bündnis darob gleich wieder zerbrechen könnte. Wen die Parteien in den ihnen zugewiesenen Kreisen aufstellen, sei ihnen überlassen, heisst es jetzt aber. Trotzdem: Sollte der Nouveau Front populaire gewinnen und sich die Frage stellen, wer das Amt des Premierministers übernimmt, werden die Konflikte wieder an Intensität zunehmen; das Bündnis könnte dereinst daran zerbrechen. Mélenchon kommt für viele nicht infrage.

Noch ist es aber nicht so weit. Vor dem besetzten Gebäude im 11. Arrondissement meldet sich Laurent Sorel zu Wort. Er ist Abgeordneter von La France insoumise im Pariser Gemeinderat. Eine echte Volksfront sei mehr als ein blosses Wahlbündnis, sagt er in einer Rede, nämlich eine Bewegung, die von der Strasse ausgehen müsse. Trotzdem ruft er die Anwesenden zum Wählen auf – mit einem Satz, der derzeit von vielen Linken fast mantraartig wiederholt wird: «Die Rechtsextremen stehen vor der Tür zur Macht.» Es gehe um die Abwägung zwischen linker Parlamentspolitik und radikalem Maximalismus, sagt Sorel. Er glaubt, sie könnte dieses Mal geglückt sein.

Die Besetzer:innen schreiben in einem Flyer, das Programm der NFP gebe ihnen Hoffnung: «Hoffnung auf den Aufbau einer gerechteren Gesellschaft, in der Ausländer:innen nicht als Sündenböcke, sondern als politische Subjekte mit Rechten behandelt werden.»

* Korrigenda vom 1. Juli 2024: In der gedruckten Ausgabe sowie in der früheren Onlineversion dieses Artikels hiess es fälschlicherweise, zum Erreichen der zweiten Wahlrunde müssten Kandidat:innen, die in der ersten Runde nicht zu den beiden Bestplatzierten gehörten, mindestens 12,5 Prozent der abgegebenen Stimmen erreichen. Tatsächlich müssen sie von mindestens 12,5 Prozent aller Wahlberechtigten gewählt worden sein.