Internationalismus: Im Osten nichts Neues?

Nr. 12 –

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Es war die wohl grösste Demo in der serbischen Geschichte: Mehr als 300 000 Personen zogen am Samstag durch Belgrad – der Höhepunkt einer beispiellosen Protestwelle. Seit Monaten begehren Student:innen und Kulturschaffende, Landwirtinnen und Schüler, Beamte und Arbeiter:innen gegen das autoritäre Regime von Aleksandar Vučić und seine korrupten Getreuen auf. Seit Monaten setzen sie ihre Körper für demokratischen Wandel ein, über Generationen, Klassen und das Stadt-Land-Gefälle hinweg. So weit, so eindrücklich.

Doch hat man sich hierzulande in den letzten Monaten durch die Social-Media-Feeds von linken und queerfeministischen Kreisen geklickt, war vom Aufbruch auf dem Balkan wenig zu spüren. In den Solidaritätsbekundungen, die Bewegungen und Freiheitskämpfe rund um den Globus adressierten – von Rojava über Gaza bis in den Sudan –, hatten die mutigen Serb:innen kaum Platz. Von einem «Internationalismus der regional begrenzten Projektionsflächen» schrieb kürzlich der Journalist Tom Strohschneider treffend auf seinem Blog. Dieser sei «eben auch nie, oder sagen wir, selten nach Osteuropa gerichtet».

Der auffälligste blinde Fleck hiesiger progressiver Debatten ist bis heute die Ukraine geblieben. Brief um Brief schrieben ukrainische Linke ihren Genoss:innen im Westen, Manifest um Manifest brachten sie heraus, um ihre Sichtweise zum russischen Angriffskrieg begreifbar zu machen. Gehört wurde die Position selten – Solidarität für ihren Kampf ums Überleben haben sie erst recht kaum erhalten. Im besten Fall straften hiesige Linke sie mit Ignoranz, im schlimmsten mussten sie arrogante Belehrungen über sich ergehen lassen. Das Unverständnis für den Freiheitskampf der Ukrainer:innen, es hat eine lange Tradition: Als sich vor elf Jahren Hunderttausende in Kyjiw zum «Aufstand der Würde» versammelten, wollten viele darin bloss einen US-gesteuerten Putsch sehen. Beschränkte Projektionen, auch hier.

Weitere Beispiele verkannter Freiheitskämpfe im Osten finden sich zuhauf. Ein besonders tragisches Exempel ist dabei die Revolution in Belarus. Drei Frauen standen an der Spitze einer von Feministinnen geprägten Demokratiebewegung, die im Sommer 2020 gefälschte Wahlen anprangerte, mit ihrem Protest aber doch so viel mehr in den Blick nahm. Haben die Plakate oder Graffiti zum diesjährigen 8. März aber auch die Feministinnen in Minsk gegrüsst? Fehlanzeige. Dabei zählt die Diktatur von Aljaksandr Lukaschenka immer noch 1200 politische Gefangene.

Polen und Rumänien, Georgien und die Slowakei: In vielen Ländern Zentral- und Osteuropas sind in den letzten Jahren junge Leute für ihre Rechte auf die Strasse gegangen. Über die Gründe für das Desinteresse hier bei uns kann man indes bloss spekulieren: Sind die Subalternen in den Ländern, die einst dem sozialistischen Block angehörten, nicht unterdrückt genug? Oder wird ihr Kampf auch deshalb gering geschätzt, weil die Freiheitsrechte, die sie so standhaft einfordern, vielen Aktivist:innen im Westen selbstverständlich sind? Wird nicht gesehen, dass es unter dem Stichwort Korruption immer auch um soziale und ökonomische Auseinandersetzungen geht?

Schlimmer noch als der Mangel an Aufmerksamkeit ist allerdings, dass die Aufstände an Europas Peripherie trotz ihrer Ausdauer und Kreativität zu selten zu Vorbildern genommen werden. Dabei weiss kaum jemand besser als die Menschen in Belgrad und Tbilissi, was Widerstand gegen autoritäre Machthaber bedeuten kann. Nun, da auch in vielen westlichen Ländern Autokrat:innen nach der Macht greifen und feministische Errungenschaften wie das Recht auf Abtreibung zurückzudrehen versuchen, liesse sich für die eigene Gegenwehr so einiges von den mutigen Osteuropäer:innen lernen. Erste Voraussetzung dafür wäre ein Internationalismus, der in ihnen nicht nur souveräne Akteur:innen, sondern auch Hoffnungsträger:innen erkennt. Und mit diesen in einen Austausch tritt: Belgrad ist sowieso immer eine Reise wert.