Autobahnausbau: Der Riese Botti findet keine Ruh
Ein Teil des Autobahnausbaus, über den im November abgestimmt wird, soll vor den Toren Berns erfolgen. Auf Kosten von Landwirt:innen, seltenen Kröten und zwei alten Hinkelsteinen.
Wer auf der Autobahn von Zürich nach Bern fährt, könnte es sehen, rechts, für ein paar Sekunden: das Grab des Riesen Botti. Hier oben im Grauholz habe er gewohnt, heisst es in der Sage. Er war gutmütig, half mit seiner titanischen Kraft den Bäuer:innen – die trotzdem immer Angst hatten, von ihm zerquetscht zu werden. Nach Bottis Tod brachte seine genauso riesenhafte Schwester in ihrer Schürze zwei Grabsteine. In einer anderen Version der Sage wird Botti ermordet, und sie rächt ihn blutig.
Die «Grabsteine» sind zwei prähistorische Menhire. Wer glaubt, die Ausrichtung von Megalithen bilde kosmische Kräfte ab, wird enttäuscht: Die Steine stehen nicht mehr an ihrem ursprünglichen Platz. Sie wurden 1959 versetzt, um Platz für die Autobahn zu schaffen. Und jetzt sind sie schon wieder im Weg.
65 Einsprachen
Auf der Brücke oberhalb der Autobahnraststätte Grauholz lässt sich erahnen, warum die Autobahnplaner an diesem 1962 eröffneten Abschnitt Freude hatten: Hier kann man auf Bern zurollen, das sanfte Gefälle hinunter, mit epischer Musik aus dem Autoradio. Gab es 1962 eigentlich schon Autoradios? Die Landschaft breitet sich aus wie ein Gemälde – Altstadt, Gurten, Voralpen. Die Sonne bricht durch die Wolken, die Kleefelder leuchten surreal grün.
Nur rollt man heutzutage nicht mehr so schön: Morgens und abends staut sich hier der Verkehr. Darum soll die A1 zwischen Schönbühl und Bern Wankdorf auf acht Spuren ausgebaut werden – eine Premiere in der Schweiz. Weitere zehn Kilometer Richtung Zürich sollen sechsspurig werden. Der Ausbau ist Teil der Autobahnvorlage, gegen die VCS, Umverkehr und weitere Umweltverbände das Referendum ergriffen haben. Am 24. November wird abgestimmt. Bei einem Ja müsste Bottis Grab noch einmal verschoben werden.
Die beiden Projekte sind Teil eines viel grösseren Plans. Dazu gehört der Ausbau des Autobahnknotens in Bern Wankdorf – der Verein Spurwechsel hat dagegen eine städtische Initiative lanciert, die im Januar eingereicht wurde. Später soll die A6 zwischen Wankdorf und Muri in einem Tunnel verschwinden, ein Teil der A6 ebenfalls sechsspurig werden, das Felsenauviadukt achtspurig.
Der Riese Botti ist so etwas wie der Schutzpatron der nordöstlichen Berner Agglo: In Ittigen gehört er zur Fasnacht, in Moosseedorf steht eine Skulptur von ihm, in Bolligen gibt es einen Botti-Preis. Ende August tauchte auch in Bern eine Pappmachémaske des bärtigen Riesen auf: an einer Demo gegen den Autobahnausbau.
Bruno Vanoni, der Mann unter der Maske, ist pensionierter Journalist, lebt in Zollikofen, sitzt für die Grünen im Berner Grossen Rat und ist beim VCS aktiv. Gebastelt hat die Maske Désirée Oster, pensionierte Tierärztin aus Moosseedorf und im Vorstand der Grünen Grauholz. Vanoni ist im Sarganserland aufgewachsen, Oster stammt aus Deutschland. Doch sie kennen die Region besser als viele, die schon immer hier lebten. «Ich engagiere mich in der Biodiversitätsförderung», sagt Oster. «Die Autobahnpläne gehen mir nahe.» Bei Moosseedorf gefährde der Autobahnausbau ein Biotop der seltenen Geburtshelferkröten. «Zwischen Schönbühl und Kirchberg werden ein Hochmoor und ein Amphibienlaichgebiet tangiert.»
Die Pläne für den Sechsspurausbau bis Kirchberg wurden noch nicht öffentlich aufgelegt. Die Einsprachefrist für den Grauholz-Ausbau ist hingegen schon vorbei. 65 Einsprachen sind eingegangen: von allen betroffenen Gemeinden, von Verbänden und Privaten, auch Landwirt:innen. Vanoni hat die Antworten des Bundesamts für Strassen (Astra) genau studiert und ist ernüchtert: «Der Einwand, dass der Ausbau den Stau nur verlagert, bleibt unwiderlegt.» Allein der Grauholz-Ausbau braucht 1300 Lastwagenladungen Beton, produziert 200 000 Tonnen Asphaltabfall und führt laut Berner Regierungsrat zu Mehremissionen von 5500 Tonnen CO₂ pro Jahr.
Bedrohtes Kulturland
Christian Salzmanns Familie hat bereits Land verloren, als die Grauholz-Autobahn auf sechs Spuren ausgebaut wurde. Jetzt soll der Bauer wieder Land abgeben. Ein Teil davon sind beste Ackerböden, sogenannte Fruchtfolgeflächen. Der Ton des Astra sei «mit jedem Mal aggressiver und arroganter» geworden, sagte er an einer Veranstaltung Ende September. Mit der WOZ sprechen will Salzmann lieber nicht, er habe mit den Medien schlechte Erfahrungen gemacht. Ein weiterer betroffener Landwirt möchte ebenfalls nicht zitiert werden. Er verhandle gerade mit dem Astra über Ersatzflächen.
Auch der Berner Bauernverband (BEBV) hat eine Einsprache gemacht. Was bedeutet das für die Abstimmung im November? «Wir sind auf eine zuverlässige Verkehrsinfrastruktur angewiesen», sagt der BEBV-Präsident und Alt-SVP-Grossrat Jürg Iseli. «Mit einem Aber: Der Landverbrauch muss auf ein Minimum beschränkt und Alternativen müssen geprüft werden.» Alternativen könnten etwa Tunnels sein: «Es gibt ja auch Grünbrücken für das Wild.»
Für schutzwürdige Lebensräume, die bei einem solchen Bauprojekt zerstört werden, etwa artenreiche Wiesen oder Hecken, braucht es laut Gesetz Ersatzflächen, und gerodeter Wald muss woanders aufgeforstet werden. Iseli fordert, dass für die Ersatzflächen kein Landwirtschaftsland umgenutzt wird. Er stellt auch die Kompensation der Waldflächen infrage: «Der Wald verzeichnet in der Schweiz einen jährlichen Zuwachs. Das Gegenteil erleben wir beim Kulturland: Sein Schutz ist ungenügend.» Der grosse Vorstand des BEBV diskutiert die Parolenfassung am 10. Oktober.
In ihm sitzt auch die grüne Nationalrätin Christine Badertscher, Agronomin, auf einem Biobauernhof aufgewachsen. Sie plädiert für ein Nein am 24. November: «Mit dem Ausbau lösen wir keine Probleme, sondern schaffen neue. Der Stau wird nicht kürzer, nur breiter.» Sie kritisiert, dass der öffentliche Verkehr in den letzten Jahrzehnten enorm viel teurer geworden ist, das Autofahren hingegen nicht.
Badertscher ist Präsidentin des Oberaargauer Bauernvereins, einer Sektion des BEBV. Der Verein hat sich 2023 gegen die geplante Umfahrung von Aarwangen bei Langenthal gewehrt, aber die kantonale Abstimmung verloren. Die anderen ländlichen Regionen des Kantons solidarisierten sich nicht mit den betroffenen Bäuer:innen. Das erlebe sie immer wieder, sagt Badertscher, «lokal ist die Betroffenheit gross – aber nur dort». Die meisten ihrer bäuerlichen Bekannten würden im November wohl Ja stimmen. Oft höre sie das Argument: «Das Gewerbe hat uns gegen die Biodiversitätsinitiative geholfen, also helfen wir ihm jetzt.»
1962 eröffnete Bundesrat Hans-Peter Tschudi die Grauholz-Autobahn. Da tauchte aus dem Wald eine maskierte Gestalt auf: der Riese Botti. Er sei es, der seither auf diesem Abschnitt die vielen Unfälle verursache, mutmassen manche in der Region. Bruno Vanoni sagt: «Die alten Leute rätseln bis heute: Wer war unter der Maske?»