Richard Dindo (1944–2025): In den Ritzen der Widersprüche

Nr. 8 –

Die politische Virulenz seines Werks bleibt ungebrochen: Richard Dindos Filme werfen Fragen auf, die in der heutigen Umbruchzeit von brennender Aktualität sind. Vergangene Woche ist er mit achtzig Jahren in Paris verstorben.

Filmemacher Richard Dindo im September 1996
Er war kantig und wollte auch anecken: Der autodidaktische Filmemacher Richard Dindo im September 1996 in Zürich. Foto: Meret Wandeler

Richard Dindo war ein filmischer Selfmademan. Die Umstände, unter denen 1970 sein erster Film «Die Wiederholung» entstand, schilderte er folgendermassen: «Ich hatte keine Ahnung von Kameras und Tonbändern, nicht die geringste praktische Erfahrung, ich war ein absoluter Autodidakt, in jeder Beziehung.» Dass Dindo als Regisseur auf die Beine kam, verdankte er nicht nur seinem untrüglichen Talent, sondern auch der Unterstützung durch etablierte Filmemacher wie Fredi M. Murer, Markus Imhoof und Alexander Seiler.

In vielen seiner über dreissig dokumentarischen Filme setzte sich Dindo mit bekannten Kunstschaffenden auseinander: Hans Staub, Max Frisch, Max Haufler, Arthur Rimbaud, Charlotte Salomon, Jean Genet, Franz Kafka, Paul Gauguin, Antonio Vivaldi. Auch dem Revolutionär Che Guevara hat er ein kinematografisches Denkmal gesetzt. Mit diesen von vorausträumender Neugier getriebenen Anverwandlungen herausragender Persönlichkeiten hatte das Publikum oft Mühe – womit der in Zürich geborene Regisseur durchaus rechnete. Gefälligkeit war nicht seine Sache, er war kantig und wollte anecken. Wichtig waren ihm künstlerische Freiheit und kreative Experimentierlust, und in dieser Hinsicht konnte er stur sein. Er strebte nicht danach, Figuren zu vereindeutigen, sondern wollte in den Ritzen ihrer Widersprüchlichkeit etwas Neues, bisher Unbemerktes oder Übersehenes sichtbar machen.

Intermediale Netzwerke

Diese Sichtbarmachung bezog sich auf das Verdrängte, Ausgeblendete und Vergessene. Dindos Filme leisteten Erinnerungsarbeit. Die schweizerische Gesellschaft bot breiten Raum dafür. Um seinen verkorksten Nationalmythos zu verteidigen, hatte sich der neutrale Kleinstaat nämlich die Verhinderung kritischer Geschichtsschreibung auf die Landesfahne geschrieben. Dagegen kämpfte die 1968er-Bewegung an, und die Schweizer Filmer:innen waren Teil dieser Rebellion. Sie wollten Neues erproben, sowohl inhaltlich wie formal. Als Autodidakt konnte sich Richard Dindo von Anfang an in jenen aufmunternden intermedialen Netzwerken bewegen, in denen der Dokumentarfilm damals neu erfunden wurde.

Dindo hatte ein waches Gespür dafür, wie man die Réduit-Ideologie infrage stellt. In seinem dokumentarischen Porträtfilm «Schweizer im Spanischen Bürgerkrieg» (1974) kritisiert er «die dickköpfige Unversöhnlichkeit und Respektlosigkeit Landsleuten gegenüber, die ihr Leben riskiert und zum Teil sogar verloren haben, um einer demokratisch gewählten Regierung und einem Volk in seinem Kampf gegen den Faschismus zu Hilfe zu eilen», wie Dindo schreibt – und die damit auch «die Ehre der Schweiz gerettet» hätten. Kein Wunder, dass das Franco-Regime Druck auf die Schweizer Behörden ausübte. Nur weil er sich wehrte, bekam Dindo die bereits bewilligten Fördergelder ausbezahlt.

1976 folgte sein wohl bekanntester Film, «Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S.», uraufgeführt an den Solothurner Filmtagen. Bereits die Recherchen von Schriftsteller Niklaus Meienberg im «Magazin» des «Tages-Anzeigers» hatten für Aufsehen gesorgt: Ernst S. war aufgrund kleiner Vergehen zum Tode verurteilt und im November 1942 hingerichtet worden. Eine Strafe, die in keinem Verhältnis stand etwa zum kollaborativen Know-how-Transfer durch den Rüstungsfabrikanten Emil G. Bührle an die Nazis.

In seiner filmischen Rekonstruktion dechiffriert Dindo diese Exekution als flagranten Fall schweizerischer Klassenjustiz. Der im Film befragte Grand Old Man der Schweizer Neutralitätsgeschichte, der Basler Professor Edgar Bonjour, unterstützte diese Interpretation, indem er – im Glauben, das Mikrofon sei bereits ausgeschaltet – nachschob: «Die Kleinen hängt man, die Grossen lässt man laufen.»

«Grüningers Fall»

Das war starker Tobak. Die NZZ attackierte den Film, und als der zuständige Bundesrat Hans Hürlimann die Auszahlung der von der Filmkommission beschlossenen Qualitätsprämie abblockte, eskalierte der Skandal. Das Schweizer Fernsehen strahlte den Film zwar aus, aber nur mit einer einleitenden Warnung des Historikers Peter Dürrenmatt. Max Frisch machte daraufhin öffentlich, dass dieser Dürrenmatt in den dreissiger Jahren ein nazifreundlicher Frontist gewesen war, der im Kalten Krieg als antikommunistischer Eidgenosse weiterwirkte.

Zwei Jahrzehnte später, in seinem Gerichtsfilm «Grüningers Fall» (1997), zeichnete Dindo nach dem gleichnamigen Buch von WOZ-Redaktor Stefan Keller die Geschichte des St. Galler Polizeihauptmanns Paul Grüninger nach. Dieser mutige Mann hatte sich den Weisungen aus Bern widersetzt, indem er mehrere Hundert österreichische Juden und Jüdinnen rettete, die vor den Nazis geflüchtet waren. In seinem Film gibt Dindo jenen eine Stimme, die in der geschönten Erinnerung der Schweiz bis dahin stumm blieben: Im Saal des St. Galler Bezirksgerichts, wo Grüninger im Herbst 1940 wegen Amtspflichtverletzung und Urkundenfälschung verurteilt worden war, lässt der Regisseur Zeitzeug:innen auftreten, die Grüninger das Leben verdanken. Mit dieser «Geschichtsschreibung von unten» trug Dindos Film auch zur posthumen Rehabilitierung Grüningers bei.

Richard Dindo war sich bewusst, dass die nationale Selbstgerechtigkeit der Nachkriegsschweiz eine schlagende Ungerechtigkeit gegenüber jenen bedeutete, die sich vor 1945 praktisch für jene humanistischen Werte eingesetzt hatten, die die offizielle Schweiz rhetorisch monopolisierte. Ihn mache «jede Ungerechtigkeit wütend», erklärte er. Diese Wut war allerdings nicht sichtvernebelnd, sondern horizonterweiternd.

Gebrochene Generation

Was das heisst, zeigte er 1987 in seiner «kriminalistischen Enquête» zur Zürcher Jugendbewegung von 1980/81. Auf eindringliche Weise wird das kurze Leben von «Dani, Michi, Renato & Max» – so der Titel des Films – aufgerollt. Alle vier sind bei «Unfällen» mit Polizisten ums Leben gekommen. «Jeder Ort hat eine Geschichte und seine Erinnerung», erklärt die Offstimme, während die Kamera über die Limmat auf das Rathaus schwenkt. Die minutiöse Offenlegung von Polizeigewalt und die fundierte Kritik an einer krass voreingenommenen Justiz liefern die Folie, vor der die vier Jugendlichen als Vertreter einer Generation porträtiert werden, deren Elan gebrochen und «deren Träume zerstört» wurden.

Richard Dindo leistete damit auch Trauerarbeit. Er wollte jedoch, wie er es selbst formulierte, kein «linker Empörungsmoralist» sein. Seine Filme sind keine Weltverbesserungsgeneratoren, sondern Lehrstücke, die ihr Publikum in Entdeckungsgeschichten einbeziehen. Das Gerechtigkeitsgefühl wird geweckt durch die Analyse und Blossstellung von Herrschaftsverhältnissen. Dabei folgt Dindo nicht der fatalen Vorstellung, die Demokratie sei bloss ein Paravent, der die hintergründige Machtstruktur des Kapitalismus verdecke. Vielmehr sieht er im Film selbst ein Kampfmittel in der demokratischen Arena. Seine Praxis als Dokumentarfilmer fordert das Versprechen der Gleichheit ein, verstanden als einer gleichen Freiheit für alle.

Zwar gibt es, wie er noch kurz vor seinem Tod festhielt, eine «Unterwürfigkeit» der Schweiz als Staatswesen, gleichzeitig charakterisiert er sie als «solide Demokratie, wo man sich wehren und damit Erfolg haben kann». Sich wehren gegen Autoritarismus, Faschismus und Ausbeutung: Das bleibt heute eine unverzichtbare zivile Tugend für die Weiterexistenz einer demokratischen Gesellschaft.

Jakob Tanner ist emeritierter Professor für die Geschichte der Neuzeit und Schweizer Geschichte an der Universität Zürich. Er war Mitglied der Unabhängigen Expert:innenkommission zur Untersuchung der Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg. Zuletzt ist von ihm der Aufsatzband «Macht, Medien und Materialität in der Moderne» (2024) erschienen.