Wie funktioniert die Hamas?: Die Eiferer aus dem Gasastreifen
Die Selbstmordattentäter und Bombenleger der islamistischen Hamas gelten als zentrales Hindernis für einen israelisch-palästinensischen Frieden.
Nun gilt sie auch in der EU als terroristische Organisation: die Hamas, die palästinensische «Islamische Widerstandsbewegung». Und zuoberst auf der israelischen Abschussliste stehen die politischen Führer der Hamas, der zweitgrössten palästinensischen Organisation nach Jassir Arafats Fatah. «Eifer» bedeutet Hamas in deutscher Übersetzung auch. Und dank den islamistischen Eiferern der Hamas erscheint der palästinensisch-israelische Konflikt als Konflikt zwischen einem modernen, aufgeklärten Staat und fanatischen Muslimen, die einer anderen Welt, einer anderen Epoche, angehören. Was im Weltmassstab die Auseinandersetzung zwischen dem Westen und al-Kaida sei, ereigne sich zwischen Jordan und Mittelmeer als Existenzkampf zwischen Hamas und Israel.
Dschihad für ein Erziehungssystem
Die Hamas wurde zu Beginn der ersten palästinensischen Intifada (1987– 1991) im Gasastreifen von der Führung der palästinensischen Muslimbrüder gegründet, an ihrer Spitze stand der gelähmte Scheich Ahmed Jassin. Die Muslimbrüder in Palästina teilten die Ideologie der ägyptischen Muslimbrüder: Kampf gegen den westlichen Kolonialismus und Befreiung der kolonisierten Menschen durch den Aufbau eines islamischen Systems. Dieses islamische System war umfassend konzipiert – persönlich, sozial, wirtschaftlich, politisch. Beides, der Kampf für die Dekolonisation und für ein islamisches System, wurde durch den Begriff «Dschihad» erfasst. Dschihad heisst hier also sowohl Anstrengung, um ein neues und besseres System aufzubauen, als auch die gezielte Anwendung von Gewalt gegen den westlichen Kolonisator, um die politische Unabhängigkeit zu erkämpfen.
Die israelische Besatzungsmacht gab den palästinensischen Muslimbrüdern und danach der Hamas – zumindest bis 1988/89 – grossen Spielraum, im Gegensatz zu ihrer Unterdrückungspolitik gegen alle weltlich orientierten palästinensischen Nationalisten. Israel operierte offensichtlich mit der Absicht, die palästinensische Befreiungsbewegung PLO von innen her, aus der palästinensischen Gesellschaft heraus, zu bekämpfen. Israel betrieb diese Politik bis Mitte der achtziger Jahre relativ erfolgreich. Als jedoch die palästinensischen Muslimbrüder ihre auf den sozialen Bereich und den religiösen Raum beschränkten Aktivitäten als nicht mehr ausreichend betrachteten und sich stärker politisch zu betätigen begannen, konnte der Konflikt mit der Besatzungsmacht nicht ausbleiben.
Die Gründung der Hamas im Dezember 1987 war Ausdruck des Wandlungsprozesses der palästinensischen Muslimbrüder. Seither konzentrieren sich ihre Anstrengungen als islamische Widerstandsbewegung auf den politischen und militärischen Widerstand gegen die israelische Besetzung. Während jedoch die PLO, die diesen Widerstand seit 1964 getragen hatte, sich sukzessive vom militärisch geführten Widerstand ab- und der Politik zuwandte, durchliefen die Muslimbrüder die umgekehrte Entwicklung: von einer nach innen gekehrten apolitischen Organisation hin zur extremsten Bewegung innerhalb des palästinensischen Nationalismus. Real richtete sich der Kampf der Hamas zuerst vor allem gegen die israelische Besetzung der Westbank und des Gasastreifens.
Konflikt mit der PLO
Doch als die von Jassir Arafat angeführte PLO 1988 den Beschluss gefasst hatte, auf jenen Teil Palästinas, in dem 1948 der Staat Israel errichtet worden war, zu verzichten und sich von nun an für eine Zweistaatenlösung einzusetzen, weigerte sich die Hamas, diesen Verzicht mitzutragen. Die Hamas forderte stattdessen ein islamisches Palästina in seinen historischen Grenzen anstelle des jüdischen Staates Israel.
Damit war der grundsätzliche Konflikt zwischen Hamas mit ihren Maximalforderungen und den Organisationen der PLO, die die erste Intifada anführten, programmiert.
Mit Beginn des Prozesses in Richtung Frieden in Nahost Anfang der neunziger Jahre und der Unterzeichnung der Oslo-Abkommen 1993 traten die konträren Positionen der PLO und der Hamas unübersehbar hervor. Trotzdem schien es, als ob Arafats immer wieder erfolgreich eingesetzte Politik der nachträglichen Einbindung auch im Falle der Hamas ihr Ziel erreichen würde, zumindest aber, dass die palästinensischen Islamisten Arafat ein Stillhalteabkommen zugestehen würden. Doch dann, im Februar 1994, geschah das Massaker in der Ibrahim-Moschee in Hebron. Ein israelischer Siedler mähte 29 Betende mit einem Maschinengewehr nieder. Die Vergeltung von Hamas liess nicht auf sich warten, und damit begannen die Selbstmordattentate – zu einem Zeitpunkt, als die palästinensische Autonomiebehörden noch gar nicht errichtet waren und Arafat noch nicht in die besetzten Gebiete zurückgekehrt war. Von der internationalen Öffentlichkeit weitgehend übersehen blieb ein von Hamas wiederholt gemachtes Angebot an die israelische Armee und Regierung, einen beidseitigen Waffenstillstand einzugehen, wonach sowohl Israel als auch Hamas auf jegliche Gewalt gegen ZivilistInnen verzichten sollten. Israel wies diese Angebote von Hamas in jedem einzelnen Fall kategorisch zurück.
Von 1994 bis 1997 kam es immer wieder zu neuen Zyklen der Gewalt nach einem sich ständig wiederholenden Muster. Der israelische Geheimdienst oder die Armee töteten Aktivisten und militärische Führer der Hamas, der militärische Arm der Hamas, die Issedin-al-Kassem-Brigaden, übte blutige Vergeltung, immer wieder auch durch Selbstmordattentate, fast immer mitten in israelischen Städten, wobei sie meistens ZivilistInnen töteten. In einigen Fällen wurden diese Gewaltzyklen auch durch die Hamas initiiert.
Arafats Taktik
Die palästinensische Autonomiebehörden unter Arafat gingen nach jeder Anschlagswelle gegen die Hamas vor: Sie schlossen mit der Hamas verbundene Wohltätigkeitsorganisationen, verhafteten eine grosse Zahl von Aktivisten und folterten Gefangene. Gleichzeitig schien sich Arafat aber bewusst, dass die islamistische Opposition ein Faktor war, mit dem das neue palästinensische politische System zu leben hatte. Arafats Politik zielte daher auf die Integration der Hamas.
Bis 1997 dominierte in der Hamas offensichtlich eine Strömung, die unerbittlich maximalistische Forderungen stellte und gleichzeitig Gewalt bevorzugte, unter weitgehendem Verzicht auf andere Formen der Politik. Wortführend scheint dabei die Führung des Hamas-Politbüros in Amman gewesen zu sein, das sich gegen die gemässigtere und eher pragmatische Hamas-Führung im Gasastreifen durchsetzte (vgl. unten). Die Nichtbeteiligung der Hamas an den palästinensischen Wahlen im Januar 1996 scheint auf eine Entscheidung der Führung im Exil zurückgegangen zu sein und stand in offenem Gegensatz zu Äusserungen der Hamas-Führer im Gasastreifen. Erst die Freilassung von Ahmed Jassin aus langjähriger israelischer Haft führte zu einer grundsätzlichen Änderung der Politik der Hamas. Unter Jassins Federführung erklärte die Hamas einen einseitigen Waffenstillstand, der bis Januar 2001 eingehalten wurde. Von Oktober 1997 bis Januar 2001 gab es kein einziges Selbstmordattentat durch die Hamas. Das Scheitern des Osloer Prozesses sowie der Beginn der zweiten Intifada Ende September 2000, gekoppelt mit dem Versuch der israelischen Armee, diesen Aufstand schon in den Anfängen zu ersticken, führten dazu, dass immer mehr PalästinenserInnen Selbstmordattentate als die einzige Möglichkeit der Gegenwehr gegen die übermächtige israelische militärische Stärke anzusehen begannen. Im Januar 2001, also im vierten Monat der Intifada, begann die Hamas wieder mit Selbstmordattentaten.
Abstimmung mit dem Portemonnaie
Für die palästinensische Gesellschaft sind jedoch die Hamas-Aktivitäten in der Fürsorge, im Gesundheits- und im Erziehungssektor ungleich wichtiger als Selbstmordattentate. Die Hamas, ihre Führung und die von ihr unterstützten Institutionen geniessen einen ausgezeichneten Ruf für ihre Arbeit, die sie offensichtlich in unbestechlicher Form leisten. Die Hamas-Verantwortlichen führen ein einfaches Leben – im Gegensatz zur palästinensischen politischen Elite, wobei Jassir Arafat als Person wohl immer auszunehmen ist, im Gegensatz auch zu den Anführern zahlreicher nichtstaatlicher palästinensischer Organisationen. Die Hamas ist ein nach eigenen Gesetzen operierendes Netzwerk innerhalb des palästinensischen politischen Systems der Oslo-Periode. Es ist zu vermuten, dass die schlichte Notwendigkeit, Geld aufzutreiben, der Hamas ihre Handlungsformen aufgezwungen hat. Entscheidend scheint zu sein, dass es die konkrete Arbeit von Hamas ist, die von den Sakat-GeberInnen (Almosen, das für jeden gläubigen Muslim verpflichtend ist) als Massstab für ihre Spenden herangezogen wird. Die Sakat-Spende ist eine Art freiwillige Steuer – mit selbständiger Wahl des Empfängers. Und in einem weiteren Punkt unterscheidet sich die Hamas von fast ausnahmslos allen anderen palästinensischen politischen Organisationen:
Ihre politische Entscheidungsfindung scheint nach überraschend stark verankerten demokratischen Prinzipien abzulaufen.
Dabei kommen die fanatischen Muslime zu durchaus rational-pragmatischen Entscheiden. Dafür spricht der Stopp der Selbstmordattentate 1998, aber auch der einseitige Waffenstillstand, zu dem sich die Hamas am 29. Juni 2003 verpflichtete. Das entsetzliche Selbstmordattentat vom 19. August 2003 – die Reaktion auf den israelischen Mord eines islamistischen Anführers – scheint ein von der Führung im Gasastreifen nicht genehmigter Alleingang der Hamas in Hebron gewesen zu sein.
Die Autorin lehrt Politologie an der palästinensischen Universität Bir Seit. Sie ist Autorin zahlreicher Bücher zum Nahostkonflikt, zuletzt erschien die Biografie «Arafat. Zwischen Kampf und Diplomatie».
Demokratie bei der Hamas
«Keine Einzelperson und keine Gruppe darf das Recht für sich monopolisieren, Entscheidungen zu fällen, die den politischen Kurs unserer Bewegung determinieren. Jeder Beschluss, den die Mehrheit gefasst hat, ist bindend für alle.» Mit diesem Brief, den Ahmed Jassin 1993 aus dem Gefängnis an Hamas-Führer und -Aktivisten schrieb, gab er die Linie vor, nach der politische Entscheidungen innerhalb der Hamas getroffen werden: nach dem Prinzip der Konsultation auf allen Ebenen unter Einbeziehung aller Führer und Aktivisten. Verlässt man sich auf Erkenntnisse der israelischen Behörden – und ihre beschlagnahmten Hamas-Dokumente – sowie auf Interviews mit Hamas-Führern, so liegt jeder prinzipiellen politischen Entscheidung der Hamas-Führung und des Politbüros ein demokratisch zu nennender Prozess der Meinungsfindung innerhalb der Organisation und, über diese hinaus, in der palästinensischen Gesellschaft zugrunde. Dabei zirkulieren Papiere, in denen das anstehende politische Problem zusammen mit möglichen Szenarien im Detail dargestellt wird und die Empfänger zu schriftlicher Stellungnahme gebeten werden. Diese Stellungnahme soll sowohl die eigene Einschätzung als auch jene relevanter gesellschaftlicher Akteure aus dem Umfeld enthalten. Das vermag wohl den politischen Pragmatismus der Hamas und ihre solide Verankerung in der Gesellschaft zu erklären.
Die Hamas-Führung
Die wichtigsten politischen Gremien in der Hamas sind:
• Das Hamas-Politbüro mit Spitze im Ausland, derzeit Chaled Maschhal, sowie der Hamas-Vertreter im Libanon, Osama Hamdan. Sowohl in Syrien wie auch in Jordanien gibt es derzeit keine offizielle Hamas-Vertretung. Ibrahim Ghosche, der frühere Hamas-Sprecher, lebt in Jordanien, hat jedoch auf Druck der jordanischen Regierung alle Aktivitäten gestoppt.
• Der Madschlis asch-Schura (eine Art Aufsichtsrat, von dem weder Sitz noch Mitglieder bekannt sind. Vermutet wird er in Katar).
• Die Führungen innerhalb Palästinas, also derzeit praktisch nur noch in Gasa und in den Gefängnissen. Davon getrennt und hierarchisch tiefer anzusetzen sind die Issedin-al-Kassem-Brigaden, der militärische Arm der Hamas. Sie sind vollständig getrennt von der politischen Organisation, folgen jedoch den politischen Anweisungen der Hamas-Führung, wobei operationelle Entscheidungen unabhängig und ad hoc getroffen werden. Wichtigster Anführer soll Mohammed Deif sein.
Die entscheidende Rolle scheint derzeit das Politbüro unter Chaled Maschhal zu spielen, der sich abwechselnd im Libanon, in Katar und wohl auch noch für kürzere Perioden in Syrien aufhält. An die Öffentlichkeit tritt er nur noch im Libanon. Etwa auf derselben Stufe steht die Hamas-Führung in israelischen Gefängnissen, ohne deren Zustimmung keine Entscheidungen getroffen werden. Praktisch alle Anführer der Hamas in der Westbank wurden getötet oder sind in israelischer Haft (und damit zu einem Teil der Gefängnis-Hamas geworden). Eine besondere Rolle hat die – historische – Hamas-Führung im Gasastreifen (noch am Leben sind Ahmed Jassin, Mahmud as-Sahar, Abdelasis ar-Rantisi, Ismail Hanijeh). Jassin hat, zumindest theoretisch, die Möglichkeit, Entscheidungen zu fällen, die von allen akzeptiert würden. Er ergreift sie jedoch äusserst selten.