Ausschreitungen in Amsterdam: Kampf der Narrative

Nr. 46 –

Nach den Gewaltexzessen gegen israelische Fussballfans diskutieren nicht nur die Niederlande kontrovers über Hergang und Interpretation der Geschehnisse.

Israelische Fussballfans am Donnerstag letzter Woche in Amsterdam
Der Nebel lichtet sich nur langsam. Israelische Fussballfans am Donnerstag letzter Woche in Amsterdam.  Foto: Mouneb Taim, Getty

Ein Aufschrei des Entsetzens ging Ende letzter Woche durch die internationalen Medien: Israelische Fussballfans waren am Donnerstag nach einem Europa-League-Match von Maccabi Tel Aviv gegen Ajax Amsterdam von einem Mob durch die Strassen der niederländischen Hauptstadt gejagt worden. Grüppchen meist junger Männer trieben sie in die Enge, schlugen sie zusammen und traten selbst auf wehrlos am Boden liegende Opfer ein, wie Social-Media-Videos dokumentieren. Diese zeigen auch, wie Menschen nach ihren Papieren gefragt und die Besitzer israelischer Pässe gezwungen werden, «Free Palestine» zu sagen.

Auf den Schock über die zuvor in Chatgruppen geplanten antisemitischen Gewaltexzesse, nur Stunden, nachdem in Amsterdam der Opfer der Pogromnacht von 1938 gedacht worden war, folgte schnell eine erbitterte Diskussion. Ihre Fronten entsprechen denjenigen der Debatte um den Krieg in Nahost. Eine andere Interpretation der Ereignisse gewinnt unterdessen zunehmend an Terrain. In ihrem Zentrum steht die Rolle von Teilen der Maccabi-Fans. Auf Videos ist eine grosse Gruppe von ihnen zu sehen, die rassistische Parolen wie «Tod den Arabern» skandiert und kriegsverherrlichende Lieder singt. In einem heisst es, in Gaza gebe es keine Schulen mehr, weil alle Kinder tot seien.

Deutungsversuche in der Grauzone

Schon am Tag vor dem Match holten Maccabi-Fans palästinensische Fahnen von Fassaden herunter und misshandelten einen Taxifahrer, worauf es zu Konfrontationen mit dessen Kollegen kam. Sehr viele Beschäftigte in der Amsterdamer Taxibranche haben arabische Wurzeln. Nach dem Schlusspfiff zogen mit Latten und Stangen bewaffnete Maccabi-Hooligans durch die Stadt, wobei es zu Sachbeschädigungen kam. Als in der Öffentlichkeit diskutiert wurde, dass Maccabi-Fans für nationalistische und rassistische Chants bekannt sind, veränderte dies, zumal bei israelkritischen Medien, ebenfalls den Blick auf die Ereignisse.

Hinzu kam, dass mehrere grosse internationale Medien in der betreffenden Nacht Videos von einer Hooliganauseinandersetzung vor dem Bahnhof in umgedrehtem Kontext verwendeten: Obwohl die Aufnahmen Maccabi-Fans im Angriff zeigen, wurden sie fälschlicherweise als Beleg für Übergriffe auf Israelis angeführt. Nach Beschwerden der Urheberin, einer niederländischen Fotografin, korrigierten die betreffenden Medien ihren Fehler. Die Empörung war gross und verlieh einem anderen Narrativ Auftrieb: Es sieht die antiisraelische Gewalt als übertrieben, verzerrt und einseitig dargestellt; oder gar seitens der Maccabi-Fans provoziert.

Der linke niederländische Youtube-Kanal «Left Laser» veröffentlichte eine Rekonstruktion der Ereignisse mit dem Titel «How Zionist hooligans provoked chaos in Amsterdam». Aber auch die konservative «Frankfurter Allgemeine Zeitung» publizierte einen Artikel über «Die ‹Judenjagd› und ihre Vorgeschichte». «Die Spannungen in der niederländischen Hauptstadt brauten sich zusammen, nachdem Maccabi-Fans eine palästinensische Fahne von einer Wand geholt hatten», heisst es dagegen bei Al Jazeera in einer Analyse – ganz so, als sei die im Voraus geplante Menschenjagd auf Israelis eine blosse Folge des Verhaltens von Teilen der gut 2500 Maccabi-Fans und die Aktionen eines entfesselten judenfeindlichen Mobs dadurch zu rechtfertigen.

Auch auf einer propalästinensischen Kundgebung, die am Sonntag trotz Demonstrationsverbot stattfand, wurde ausdrücklich die israelische Seite für die Gewalt verantwortlich gemacht. Der linke Amsterdamer Stadtrat Jazie Veldhuyzen, der an der Kundgebung anwesend war, distanzierte sich in niederländischen Medien von den Angriffen auf die Maccabi-Fans, forderte aber, diese «in einem breiteren Kontext» zu sehen.

Der Kontext ist in diesem Fall eine komplexe Mischung unterschiedlicher Ebenen und Akteure: Da ist der Hooliganismus mancher Maccabi-Fans, ihr szenetypischer Hang zu Chauvinismus und Gewalt; da sind propalästinensische Demonstrant:innen, deren Kundgebung aus Angst vor Ausschreitungen vom Stadion in ein nahes Wohngebiet verschoben wurde; da ist auch die seit Monaten aufgeheizte Stimmung in der Stadt wegen des Krieges in Nahost, und schliesslich die organisierte Jagd auf israelische Menschen. Einzelne «Allahu akbar»-Rufe auf Videomaterial weisen auf einen islamistischen und antisemitischen Charakter der Übergriffe hin, die Ankündigung «Wir gehen auf Judenjagd», die ein Mann, der sich im Auto filmt, ausstösst, ist unmissverständlich.

Ebenso wie das Verhalten gewaltbereiter Hooligans nicht alle Maccabi-Fans zu kriegslüsternen Rassisten macht, müssen die beteiligten Taxifahrer nicht allesamt überzeugte Judenhasser sein, auch wenn sie manche Maccabi-Fans «an bestimmten Orten ablieferten, um sie dort zusammenschlagen zu lassen». Das berichtete David Beesemer, der Vorsitzende des niederländischen Maccabi-Zweigs, der nach dem Match eine provisorische Notunterkunft für israelische Anhänger:innen mitorganisierte.

Unter dem Strich bietet sich also ein unübersichtliches Gesamtbild mit Grauzonen, in dem eine genaue Rekonstruktion der Ereignisse kaum möglich erscheint. Femke Halsema, die Amsterdamer Bürgermeisterin, liegt nicht falsch, wenn sie in ihrem am Montagabend gemeinsam mit Polizei und Staatsanwaltschaft verfassten Brief an den Gemeinderat von ­«einem giftigen Cocktail aus Antisemitismus, Hooliganverhalten und Wut über den Krieg in Palästina und Israel sowie in anderen Ländern im Nahen Osten» spricht. Die Gewalt ging, so Halsema, von zwei Seiten aus.

Die Gewaltspirale dreht sich weiter

Dass es hier um wesentlich mehr als um eine spontane Konfrontation von fussballerisch oder politisch motivierten Hooligangruppen geht, zeigte sich unterdessen im Nachgang. In Amsterdam wurden in den auf den Match folgenden Nächten vereinzelte antisemitische Vorfälle gemeldet, die auch im Brief der Bürgermeisterin Erwähnung finden: eine Beleidigung, ein jüdischer Fahrgast, der aus einem Taxi getreten wurde, zwei Personen, die von einem Rollerfahrer sowie einem Taxifahrer gefragt wurden, ob sie Israelis seien. Einer von ihnen wurde nach seinem Ausweis gefragt.

Die Geschehnisse in Amsterdam hallen weiter nach. Sie wirken sich auf ein Länderspiel zwischen Frankreich und Israel aus, das am Erscheinungstag dieser WOZ stattfindet. Paris wird mit dem Einsatz von 4000 Polizist:innen zum Hochsicherheitsgebiet. Zwischen den beiden Spielen kam eine Pressemeldung aus Antwerpen, wo eine grosse jüdisch-orthodoxe Gemeinschaft lebt: Dort wurden am Wochenende fünf Personen festgenommen, die für Aufrufe in den sozialen Medien verantwortlich sein sollen. Geplant war offenbar eine «Judenjagd» nach Amsterdamer Vorbild.