Demokratie-Initiative: Radikal, realistisch, volksnah
Die Demokratie-Initiative bietet die Chance, die Ansprüche der Schweiz mit der Wirklichkeit in Einklang zu bringen. Diese Woche wird sie eingereicht.
Eine solch unerhörte Initiative gegen den Zeitgeist muss man sich erst einmal trauen: Rund um den Globus drängen rechtspopulistische Parteien an die Macht, werden fürchterliche Begriffe wie «Remigration» oder «Deportation» salonfähig; einmal mehr verschärft die EU ihren Umgang mit Geflüchteten, lässt Haftlager auch für Kinder an den Aussengrenzen errichten; derweil sich in der Schweiz FDP und SVP mit Ausschaffungsfantasien überbieten und das Bürgertum einer rechtsextremen deutschen Politikerin zujubelt.
Eine solch radikale Initiative zum Bürgerrecht muss man sich auch erst einmal ausdenken: Die letzten progressiven Ideen, die die Einbürgerung als Schritt hin zur Teilhabe am Staat und nicht als Prüfung über die «Assimilation» verstanden, liegen schon über hundert Jahre zurück. Danach ging es nur noch in Trippelschritten vorwärts, zuletzt gab es eine minime Erleichterung der Einbürgerung für Angehörige der dritten Generation. Mutigere Vorstösse, etwa von der heutigen Grünen-Präsidentin Lisa Mazzone und dem damaligen SP-Ständerat Paul Rechsteiner, wurden schon im Parlament abgeklemmt, als würden sie ein Tabu ansprechen.
Es blieb also nur der Weg übers Unterschriftensammeln: Vor eineinhalb Jahren hat die Aktion Vierviertel ihre Demokratie-Initiative lanciert. Sie fordert nichts weniger als einen Anspruch auf Einbürgerung für alle Menschen, die seit mehr als fünf Jahren rechtmässig in der Schweiz leben, sofern sie nicht zu einer längeren Haftstrafe verurteilt sind, nicht gegen die innere und äussere Sicherheit des Landes verstossen und über Grundkenntnisse einer Landessprache verfügen. Die Einbürgerung soll wieder ein Schritt hin zur Teilhabe am Staat werden.
Eine realistischere Initiative kann es daher gar nicht geben. Sie hat das Potenzial, das gerne proklamierte Selbstverständnis der Schweiz als ausgefeilte Demokratie und die gesellschaftliche Wirklichkeit in Einklang zu bringen.
Ein Viertel der Menschen, die heute in der Schweiz leben, sind mittlerweile wegen der restriktiven Einbürgerungsregeln von der Mitbestimmung ausgeschlossen, in den Städten liegt der Anteil noch weit höher. Mehr als zwei Millionen Menschen dürfen also am kommenden Sonntag nicht darüber entscheiden, wie ihre Krankenkassenprämien verwendet werden, ob ihnen künftig die Wohnung einfacher gekündigt werden darf oder ein Autobahnzubringer vor die Füsse gebaut wird. Ein unhaltbarer Zustand nicht bloss für die Ausgeschlossenen, sondern auch für die Ausgrenzenden: Die Schweiz erinnert immer weniger an eine Demokratie als vielmehr an eine Gated Community, die sich ihr zugezogenes Dienstpersonal in eigentlichen Untertanenverhältnissen hält – und diese Herrschaft entfaltet erst noch über Generationen ihre Wirkung, weil nicht einmal die Anwesenheit in der Gated Community bei Geburt als Einbürgerungsgrund gilt.
Bei der Erteilung des Bürgerrechts geht es dabei um weit mehr als bloss um die demokratische Mitbestimmung. Vielmehr ist Migrations- immer auch Klassenpolitik: Untersuchungen haben gezeigt, dass Personen mit Schweizer Pass deutlich häufiger zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen werden als solche ohne. Einbürgerungen stärken den beruflichen Werdegang der Einzelnen und damit die soziale Wohlfahrt für alle. Der Schweizer Pass, den künftig insbesondere Jugendliche ohne Hürden und Demütigung beantragen könnten, würde ihnen den gleichen Schutz und die gleiche Sicherheit wie ihren Alterskolleg:innen bringen: Sie könnten später nicht mehr wegen des lang andauernden Bezugs von Sozialhilfe oder eines Delikts ausgewiesen werden.
Am Erscheinungstag dieser WOZ wird die Demokratie-Initiative mit mehr als 104 500 beglaubigten Unterschriften bei der Bundeskanzlei eingereicht. Die linken Parteien und die Gewerkschaften haben sich bei der Unterschriftensammlung lange zurückgehalten, die Initiative passte ihnen angeblich nicht in den Zeitplan. Das hatte immerhin den positiven Effekt, dass quer durch die Schweiz eine breite zivilgesellschaftliche Bewegung für das Anliegen entstanden ist, die beim Sammeln einen fulminanten Schlussspurt hingelegt hat. Die SVP wird es ungern hören: Die Demokratie-Initiative ist nicht nur realistisch, sie ist auch volksnah im besten Sinn.