Der linke Coup: An 600 000 Haustüren geklopft

Nr. 9 –

Noch vor kurzem kämpfte die Linkspartei ums Überleben, jetzt drehte sich der Wahlkampf zu ihren Gunsten. Gleichzeitig fliegt das von ihr abgespaltene Wagenknecht-Bündnis aus dem Bundestag. Wie ist das bloss alles passiert?

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Heidi Reichinnek, Spitzenkandidatin der Linken, zwischen den Parteivorsitzenden Ines Schwerdtner und Jan van Aken an der Wahlparty im Berliner «Glashaus»
Heidi Reichinnek, Spitzenkandidatin der Linken, zwischen den Parteivorsitzenden Ines Schwerdtner und Jan van Aken an der Wahlparty im Berliner «Glashaus».

Gerade sind die ersten Hochrechnungen über die Bildschirme geflimmert, als Jan van Aken «Links leeebt!» in die jubelnde Menge ruft. Die stimmt an: «Mietendeckel, Mietendeckel!» Die Unterstützer:innen der Partei Die Linke haben sich in einer Veranstaltungshalle an der Grenze zwischen Ost- und Westberlin versammelt. Etliche müssen draussen bleiben, es herrscht zu viel Andrang.

«Ich kann seit Wochen nicht richtig schlafen», sagt ein junger Mann, der erst vor vier Monaten der Partei beigetreten ist. So richtig fassen, was hier passiert, kann er noch nicht. Und in der Tat ist erklärungsbedürftig, warum um 18 Uhr bei der Verkündigung der Prognosen der rosa Balken der Linkspartei auf 8,5 Prozent klettert: einer Partei, die anderthalb Jahre lang und bis wenige Wochen vor der Wahl in ausnahmslos jeder Umfrage bei nur 3 bis 4 Prozent lag – und damit weit unter der Fünfprozenthürde, die den Einzug in den Bundestag ermöglicht.

Viele, die die Partei längst für tot gehalten hatten, schreiben den Überraschungserfolg «Heidi» zu. «Heidi», das ist Heidi Reichinnek, die neben van Aken Spitzenkandidatin der Partei ist. Und seit dem 29. Januar ein Politikpopstar. An jenem Tag, an dem die Union sich von der AfD erstmals eine Mehrheit im Bundestag verschaffen liess, hielt Reichinnek dort eine kämpferische Rede, die sich viral verbreitete. Seitdem wird die 36-Jährige, wo sie hinkommt, bestürmt – vor allem von jungen Fans: Nach Auftritten müssen Reichinnek und van Aken inzwischen ein bis zwei Stunden «Selfiezeit» einplanen.

Der Kurswechsel

Doch ist dieser plötzliche Hype der Grund für die Wiedergeburt der Linkspartei? Am Sonntagabend, vor den jubelnden Anhänger:innen, meint Reichinnek: «Ne, nicht Heidi. Ihr alle habt diese Wiederauferstehung möglich gemacht!» Und über das Ergebnis, das im Lauf des Abends noch auf 8,8 Prozent steigen wird, sagt sie: «Wenn jemand das vor ein paar Monaten gesagt hätte, dann hätte man geantwortet: Schöne Geschichte, aber bisschen sehr unrealistisch.» Tatsächlich sah es noch vor einem halben Jahr so aus, als könnte sich viel eher das Spaltprodukt der Partei etablieren: das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW). Dieses hat nun den Einzug in den Bundestag verfehlt, wenn auch extrem knapp.

Die einfache Erklärung für die erstaunliche Wendung geht etwa so: Mit ihrer klaren antifaschistischen Haltung und als einzige Partei, die nicht in den Chor der Abschieber:innen gegen Geflüchtete einstimmte, mit geschickter Arbeit in den sozialen Medien, mitreissenden Kandidat:innen, sozialen Botschaften, viel Engagement, guter Laune und ohne öffentlich ausgetragene Streitigkeiten ist die Wiederauferstehung geglückt. All diese Faktoren dürften ihren Teil zum Erfolg beigetragen haben, ebenso wie der Umstand, dass die Medien die Linkspartei als interessanten Gegenstand wiederentdeckt und wohlwollend über sie berichtet haben.

Gregor Gysi, Dietmar Bartsch und Bodo Ramelow auf einem Pappschild
Die Pappkameraden der «Mission Silberlocke», die der Linkspartei aussichtsreiche Wahlkreise sichern sollte: Gregor Gysi, Dietmar Bartsch und Bodo Ramelow.

Ein wesentlicher Punkt aber gerät dabei aus dem Blick, obwohl er doch entscheidend war: Nach dem desaströsen Europawahlergebnis (2,7 Prozent) im letzten Sommer und den niederschmetternden Landtagswahlen, bei denen sie sogar aus ostdeutschen Parlamenten flog, vollzog Die Linke ab dem Herbst einen Kurswechsel. Das im Oktober gewählte Vorsitzendenduo Ines Schwerdtner und Jan van Aken hatte eine Strategie im Gepäck: Es legte den Fokus auf Klassenfragen wie hohe Mieten, hohe Preise oder eine Vermögenssteuer – und blieb streng dabei, egal, was drum herum passierte. Das Duo liess zudem die sozialen Beratungsangebote der Partei ausbauen und verzichtete selbst auf einen guten Teil der Bezüge durch seine Ämter. Diese leitete es in die sozialen Hilfskassen der Linken um.

Mit dieser Ausrichtung zog die Partei in einen Haustürwahlkampf, wie ihn Nam Duy Nguyen bei der Landtagswahl in Leipzig bereits erfolgreich praktiziert hatte. Zunächst als Zuhörerin, um die drängenden Bedürfnisse der potenziellen Wähler:innen zu ermitteln, dann als Botschafterin für eine Politik, die sich dieser Bedürfnisse annimmt. An den insgesamt 600 000 Haustüren, an denen sie klingelten, hatten die Wahlkämpfer:innen auch praktische Hilfsangebote dabei: einen Mietwucherrechner etwa, mit dem Mieter:innen mit wenig Aufwand überhöhte Mieten zurückfordern können, sowie eine Heizkosten-App, die bei überhöhten Nebenkostenabrechnungen hilft. Mithilfe dieser Tools haben bereits Tausende Mieter:innen Geld zurückbekommen. Die soziale Offensive blieb also nicht nur leere Parole.

Diese Art, den Wahlkampf zu führen, hat wiederum Tausende Unterstützer:innen, die oft gar nicht selbst Mitglied der Partei sind, mobilisiert und eine Dynamik entfacht, die in Ballungsräumen wie Berlin oder Leipzig zu einer regelrechten sozialen Bewegung angewachsen ist. Die Ironie an der Geschichte: Mit ihrer Strategie ist es der Linken gelungen, sich als die Anwältin der Menschen mit den kleinen Portemonnaies und als erste Adresse in sozialen Fragen neu zu erfinden – ganz anders als das BSW. Dessen Kritik lautete bekanntlich jahrelang, die Linkspartei habe den Arbeiter:innen den Rücken gekehrt und umwerbe nur noch die «woken» urbanen Mittelschichten. Nun hat die Linkspartei das Gegenteil bewiesen – und zwar mit tatkräftiger Unterstützung gerade jener als selbstgerecht gescholtenen urbanen Milieus. Das BSW dagegen hat keine Ansprache von sozial Benachteiligten entwickelt und ihnen auch programmatisch wenig zu bieten.

Mit der Fokussierung auf Klassenfragen wurden progressive Positionen in anderen Bereichen zwar nicht über Bord geworfen, aber sie wurden bewusst weniger thematisiert. Auf den ersten Blick mag das seltsam erscheinen, ist doch Reichinnek mit ihrer Rede zum Thema «Asyl und Migration» bekannt geworden. Wer sie aber in den Wochen davor und danach beobachtet hat, konnte feststellen, was die von der Parteiführung ausgegebene Konzentration auf die «eigenen Themen» bedeutet: In jedes Mikrofon, das Reichinnek hingehalten wurde, sagte sie stets, dass man einen Mietendeckel und ein gerechtes Steuersystem durchsetzen werde.

Wagenknechts Fall

Anders das BSW: Fast schon spiegelbildlich zur Neugeburt der Linken vollzieht sich nach anfänglich steilem Start dessen Abstieg – zum Entsetzen ihrer erfolgsverwöhnten Gründer:innen. Im Herbst 2023 hatten sich zehn Abgeordnete nach einem jahrelangen, zermürbenden Streit abgespalten. Im Januar 2024 gründete sich das BSW als Partei: Fundamentalopposition gegen die «Altparteien» schrieb es sich auf die Fahnen, Verhandlungen mit Putin, Begrenzung der Migration, «wirtschaftliche Vernunft» – vor allem die Wiederaufnahme der russischen Gasimporte. Bei der Europawahl im Juni kam die neue Partei aus dem Stand auf 6,2 Prozent, bei den Landtagswahlen in den ostdeutschen Bundesländern Thüringen, Sachsen und Brandenburg wenige Monate später erreichte sie zwischen 12 und 16 Prozent. Vor allem ehemalige Wähler:innen der Linken konnte sie damals noch für sich gewinnen.

Sahra Wagenknecht an der BSW-Wahlfeier im Berliner Kino Kosmos
Ganz knapp gescheitert: Sahra Wagenknecht an der BSW-Wahlfeier im Berliner Kino Kosmos.

Ein Problem für das BSW im kurzfristig anberaumten Bundestagswahlkampf bestand nun darin, dass die als Markenkern auserkorene «Friedenspolitik» eine untergeordnete Rolle spielte. Beim «Ausländer raus!»-Wettbewerb wiederum konnte das BSW mit AfD und CDU nicht mithalten. Dennoch haben die BSW-Abgeordneten, früher alle bei der Linkspartei, in Windeseile ihre ehemaligen Prinzipien über Bord geworfen und im Januar mit der rechtsextremen AfD im Bundestag gegen Migrant:innen gestimmt. Das dürfte einige BSW-Interessierte dann doch abgeschreckt haben.

Am meisten aber wird dem Bündnis geschadet haben, dass es, berauscht vom eigenen Erfolg, nur kurz nach der Gründung in zwei Landesregierungen – in Thüringen und Brandenburg – eingetreten ist. Den Platz als echte Opposition gegen die «Altparteien» hat es damit geräumt, dort macht sich rechts weiter die AfD, links wieder Die Linke breit. Möglich, dass sich das BSW nicht mehr erholt, denn ohne Sitze im Bundestag bricht ein wichtiger Motivationsfaktor für seine Nochparlamentarier:innen weg. Dass die streng top-down organisierte Partei trotz grossem Interesse kaum jemanden in die eigenen Reihen aufgenommen hat und daher nur wenig mehr als tausend Mitglieder zählt, erleichtert die Sache auch nicht gerade. Allerdings hat Wagenknecht noch nicht aufgegeben und erwägt, die Wahl juristisch anzufechten.

Nach dem Hype

Während das BSW um seine Zukunft bangt, ist die Linkspartei de facto neu gegründet worden: Seit November 2024 hat sich die Mitgliederzahl fast verdoppelt, nach der Wahl wurde die symbolische Zahl von 100 000 Mitgliedern erreicht. Das wird die Partei stark verändern und sie vor Herausforderungen stellen. Schon immer gab es Themen – in der Aussenpolitik etwa die Waffenlieferungen an die Ukraine oder der Krieg in Gaza –, die unter den Mitgliedern auch nach dem Konflikt mit Wagenknecht kontrovers blieben. Mit all den Neumitgliedern wird die Aufgabe inhaltlicher Klärung nicht kleiner. Interessant wird überdies, wie sich die neue Linksfraktion aufstellt – etliche ihrer Abgeordneten sind Menschen, die bis vor wenigen Tagen nicht damit rechnen konnten, in den Bundestag einzuziehen; einige haben sich vor Monaten, als die Wahllisten gemacht werden mussten, «eher aus Höflichkeit aufstellen lassen».

Das sagt, halb lachend, halb bange, einer der Hunderten von Genoss:innen, die am Sonntagabend zwischen Ungläubigkeit und Freude changieren. Zeit zum Verschnaufen bleibt ihnen keine. Von der Bühne gibt Heidi Reichinnek ein grosses Versprechen: «Mietendeckel – kommt mit uns! Mehrwertsteuer auf Lebensmittel weg – kommt mit uns! Gerechteres Steuersystem – kommt mit uns!» Aus der Opposition heraus und mit einer gesellschaftlichen Bewegung im Rücken soll das gelingen. Und muss es gelingen. Denn wer zur Hoffnungsträgerin wird, muss liefern. Sonst droht schnell Ernüchterung.

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