Auf allen Kanälen: Unter der Kettensäge

Nr. 35 –

Während Zeitungen aus der Schweiz, Österreich und Deutschland von der «Lokomotive Südamerikas» schwärmen und «mehr Milei» fordern, zerbröckelt in Argentinien die Demokratie.

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stilisiertes Foto von Javier Milei mit Kettensäge

In den Mittelschichtsvierteln von Buenos Aires ist es zur Normalität geworden, dass Familien in Mülltonnen nach Essen suchen, beim Bäcker nach Resten vom Vortag fragen und in Hütten aus Decken und Kartons an Strassenecken übernachten. Die Zahl der Obdachlosen in der Stadt ist im Vergleich zum Vorjahr um fast dreissig Prozent gestiegen. Im August kündigte die Stadtverwaltung an, wer den Müll durchwühle, müsse künftig umgerechnet bis zu 550 Schweizer Franken Strafe zahlen. Diese Menschen sollen in der Stadt nicht sichtbar sein und keinewswegs das Erfolgsbild von Präsident Javier Milei trüben.

Schocktherapie

Auch wirtschaftsliberale deutschsprachige Medien ignorieren in vor kurzem erschienenen Texten die Schattenseiten der Politik des rechtslibertären Präsidenten. Die NZZ lobt Mileis «Erfolgsbilanz», die «Schocktherapie scheint bis jetzt zu funktionieren». Der «Kurier» fordert gar einen «österreichischen Milei». «Die Zeit» fragt: «Hat die Kettensäge etwa Erfolg?» Sie alle loben die sinkende Inflation, die Reduktion des Haushaltsdefizits und die Wachstumsprognosen für die Wirtschaft. Auch René Scheu, Mitbegründer des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik, feiert Milei in einem Interview in den CH-Media-Zeitungen, weil dieser die Inflation in Rekordzeit gesenkt habe.

Doch wer wirklich wissen will, was in Argentinien passiert, muss genauer hinschauen: Zwar ist die Inflationsrate in der Tat deutlich gesunken, was wohl auch der einzige Grund dafür ist, dass so viele Menschen Milei immer noch unterstützen. Aber die Lebenshaltungskosten befinden längst sich auf einem Rekordhoch: Argentinien ist von einem der günstigsten zu einem der teuersten Länder Lateinamerikas geworden. Ein Kaffee kostet umgerechnet 2.80 Franken, bei einem Mindestlohn von 192 Franken. Beim «Big-Mac-Index», der die Kaufkraft von Währungen anhand der Preise für dieses Produkt in verschiedenen Ländern vergleicht, wird Argentinien weltweit nur von der Schweiz übertroffen. Die Reallöhne und die Kaufkraft sind gesunken. Immer mehr Menschen zahlen im Supermarkt mit Kreditkarte, und immer weniger können anschliessend die Schulden abzahlen.

«Eine restriktive Fiskalpolitik ist nicht immer wünschenswert, aber Milei zeigt, dass die Kosten oft nicht so hoch sind, wie viele Progressive glauben», schreibt der US-amerikanische Ökonom Noah Smith in der NZZ und ignoriert die von Milei vollzogenen drastischen Einschnitte bei Bildung, Gesundheit und Renten. In Buenos Aires protestieren jede Woche Rentner:innen, weil sich die Regierung weigert, ihre Renten an die Inflation anzupassen. Mit auf der Strasse sind Angestellte eines wichtigen Kinderkrankenhauses, deren Löhne unter der Armutsgrenze liegen, und Menschen mit Behinderung, deren Hilfsleistungen Milei gekürzt hat. Nach seiner Auffassung ist es nicht die Aufgabe des Staates, sie zu unterstützen.

Da Milei für seine radikalen Sparmassnahmen keine politischen Mehrheiten findet, regiert er seit Amtsantritt mit Notstandsdekreten und übergeht damit den Kongress. Die Abgeordneten bezeichnet er als «Ratten», gegen regierungskritische Proteste geht er repressiv vor: Sicherheitskräfte bekämpfen Demonstrationen mit Gewalt, während das Streikrecht eingeschränkt wird. Der «freie Markt» funktioniert nur unter einer autoritär geführten Regierung – die «strenge Austeritätspolitik», die die NZZ als Erfolg bewertet, zerstört die Demokratie in Argentinien.

Keine nachhaltige Wende

«Der Rechtspopulist Javier Milei hat entgegen düstersten Prophezeiungen die Wende geschafft», schreibt der «Kurier». Mileis vermeintlicher makroökonomischer Erfolg basiert auf der Verfügbarkeit von US-Dollar-Reserven und auf der künstlichen Aufwertung des Peso. Die Dollarreserven hat der Staat nur, weil Milei einen neuen Milliardenkredit beim Internationalen Währungsfonds aufgenommen hat. Aber die Schuldendienstzahlungen fressen die Reserven schnell auf. Und die durch die Aufwertung des Peso und die Abschaffung von Zöllen billigeren Importe zerstören die nationale Industrie. Von einer nachhaltigen «Wende» kann also keine Rede sein.

Die Schweiz, Österreich und Deutschland sollten also auf keinen Fall «mehr Milei wagen», wie «Die Welt» fordert. Die Verteufelung von «überbordenden Staatsausgaben» und die Rufe nach «Reformwillen» verschleiern den Abbau von hart erkämpften Grundrechten zugunsten der Wirtschaftseliten.