Literatur: Die Aussätzigen

Nr. 49 –

Buchcover von «Ein menschlicher Fehler»
Kim Hye-Jin: «Ein menschlicher Fehler». Roman. Aus dem Koreanischen von Ki-Hyang Lee. Hanser Verlag. Berlin 2024. 220 Seiten.

Ein Glas Wasser, Fenster öffnen, Radio anstellen, Hausarbeit. Vor dem Abendessen schreibt sie Briefe, die sie danach beim Spaziergang im Park nicht ein-, sondern wegwirft. In diesen schreibt Hae-Su Sätze wie: «Bedeutet leben, zu lernen, mit dem Schlimmsten zurechtzukommen? So zu tun, als sei man am Leben, während man in eine todesähnliche Schockstarre verfällt. Mehr tot als lebendig. Ich bin der lebende Beweis dafür, dass das möglich ist.» Die wenigsten der Adressaten kennt sie persönlich. Und doch kehrt sie in ihren Briefen in distanzierten, penibel gewählten Formulierungen ihr Innerstes nach aussen, bittet wechselweise um ein Treffen oder um Vergebung.

Vor einem Jahr noch war Hae-Su eine anerkannte Psychotherapeutin, lebte in einer Beziehung, war eingebunden in einen Freundeskreis. Dann äussert sie in einer Fernsehsendung einen unbedachten Satz über einen Schauspieler, eine Lappalie, eigentlich, doch der Mann bringt sich wenig später um, und im Netz wird sie zur Zielscheibe des Hasses – und im realen Leben zur Ausgestossenen. Im Park trifft Hae-Su auf eine hinkende Strassenkatze, ausgehungert, mit eitrigen Augen und Wundschorf im Gesicht: ein Spiegelbild ihres eigenen Daseins als Aussätzige. Zusammen mit Se-In, einem Mädchen, das von seinen Kamerad:innen gemobbt wird, setzt sie hinfort alles daran, diese Katze zu retten.

In ihrem neuen Roman, «Ein menschlicher Fehler», zeichnet die Südkoreanerin Kim Hye-jin mit nüchterner, aber feinfühliger Sprache weibliche Figuren, die darum ringen, nicht zu zerbrechen an einer Gesellschaft, deren rigide Traditionen die Autorin in immer neuen, erschreckenden Facetten als frauen- und letztlich menschenverachtend entlarvt. Gleichzeitig setzt sie dieser Gesellschaft mit der «verrückten Katzenfrau», die mit Metallfalle, Plastikwägelchen und der kleinen Se-In durchs Quartier zieht, ein poetisches Monument der Menschlichkeit entgegen. Bleibt zu hoffen, dass nebst «Die Tochter» (2022) bald auch Kim Hye-jins frühere Romane ins Deutsche übersetzt werden.