Die Seziererin Die japanische Autorin Sayaka Murata litt als Kind unter einem Fluch. Bis sie das Schreiben für sich entdeckte.

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Portraitfoto von Sayaka Murata
Sayaka Murata beobachtet ihre Figuren und ­interveniert nur, wenn sich nichts bewegt. Derzeit schreibt sie in Zürich an einem Roman.

«Iwakan» – «so was wie ein Unwohlsein, ein Unbehagen». Die Übersetzerin zeichnet das Wort in japanischen Buchstaben auf ihren weissen Notizblock: «i» für falsch oder anders, «wa» für Harmonie, Frieden, «kan» als Gefühl oder Emotion. «Es beschreibt das Gefühl, dass irgendwas nicht ganz stimmt. Oder dass man selber nicht ganz richtig ist, so, wie man ist.»

Es ist ein sonniger Tag im Februar, neben der Übersetzerin Daniela Tan sitzt die japanische Autorin Sayaka Murata. Gerade ging es um die Frage, welche Erinnerungen im Schreiben hochkommen. Murata nickt, als hätte sie verstanden, wie die Übersetzerin das umständliche Wort erklärt hat. Ihre Geschichten sind der Inbegriff von «iwakan», kaum eine andere Autorin beherrscht die Kunst der Andersartigkeit so gut wie Sayaka Murata.

Ein Mann als Haustier

Seit Januar ist die mehrfach preisgekrönte Japanerin Gastautorin im Literaturhaus Zürich. Porträts gibt es von ihr in den deutschsprachigen Medien kaum. Anders als Rezensionen. Zwei ihrer Romane und ein Erzählband wurden bisher übersetzt. Die Reaktionen, stets zahlreich, zeugen von einer verstörten Begeisterung. Ihre Geschichten seien grotesk, heisst es, beunruhigend, wahnsinnig. Aber auch immer: rührend. Als ginge es in den Geschichten, die von Kannibalismus, Inzest oder der unerbittlichen Ordnung der Dinge erzählen, immer auch um weiche Wahrheiten. Wer sich in diesem Mäntelchen in Muratas Geschichten begibt, wird jedoch böse enttäuscht: Wahrheiten ja, Weichheit nein.

Dass Murata verklärt wird, überrascht wenig. Sie ist eine Autorin aus Asien, die leise spricht und dunkel schreibt. In ihren Geschichten regiert die Seltsamkeit, es geht oft um Frauen, die den Konventionen nicht entsprechen können oder wollen. Etwa um eine Frau, die gern in Menschenmassen badet. Am liebsten in stickigen U-Bahnen, weil da jede Ausdünstung optimal aufgesogen werden kann. Oder um zwei Schulmädchen, die einen Mann in Anzug als Haustier halten. Um eine junge Frau, die nach dem Tod ihres Arbeitskollegen dessen Totenfeier besucht. Wo sie ihn – köstlich zubereitet! – verspeist. Oder um die verstörendste von allen: Keiko, die Protagonistin des 2018 erschienenen Romans «Die Ladenhüterin», eine junge Frau, die in einem rund um die Uhr geöffneten Supermarkt arbeitet und davon gänzlich erfüllt ist. Kein Wunsch nach Haus, Ehemann, Kindern, Golden Retriever. Zu Hilf!

Bei all ihrer Skurrilität kippen Muratas Geschichten nie in die blumige Schrulligkeit, die ihnen fälschlicherweise manchmal zugeschrieben wird. Die Stärke von Murata ist ihre erzählerische Distanz, eine unverfrorene Sachlichkeit, mit der sie innerste Wahrheiten hervorholt. Wer Murata liest, den schaudert es – erst vor der Geschichte, dann vor der Gesellschaft, die sie spiegelt. Und nicht selten auch vor einem selbst. «Iwakan».

Sayaka Murata wurde 1979 in der Präfektur Chiba geboren. Sie war ein schüchternes Kind, das stets darauf bedacht war, nicht zu viel Raum einzunehmen. Ihre konservativen Eltern, sagt sie, hätten ihr früh beigebracht, was sich gehöre und was nicht. «Mir kommt es manchmal vor, als würde der innerste Teil von Menschen, jener, der dafür verantwortlich ist, was sie wirklich denken und wollen, tief schlafen. Bei mir als Kind war es genauso.» «Noroi» nennt sie es, das japanische Wort für Fluch. Ein Fluch, der einem all das einprägt, was richtig sein soll – und all das, was man wirklich denkt, untergräbt. Wie eine Maschine sei sie aufgewachsen, die es allen habe recht machen wollen. Murata hat immer gern gelesen, in erster Linie Science-Fiction und «Light Novels», illustrierte japanische Romane. Im Primarschulalter fing sie an zu schreiben, erst von Hand, dann in einen Word-Processor, eine Art Vorfahre des Computers. Sie stellte sich vor, wie die eingetippten Geschichten an eine Geschichtengottheit gelangten, die diese (vorausgesetzt, sie gefielen ihr) in Bücher verwandelte. Oft habe sie danach in den Buchläden geschaut, ob ihre Geschichten ausgelegt waren. Murata lacht. «Waren sie natürlich nie.»

Später, an der Universität in Yokohama, erzählte sie ihrem Professor vom Geschichtengott. Er sei überhaupt nicht überrascht gewesen, sondern habe genickt und gesagt, dieser Gott sei das, was Geschichten in Bewegung bringe. Aber er sei nicht die einzig wichtige Instanz, eine mindestens genauso zentrale Rolle spielten die Lesenden. Murata hat die Metapher nie vergessen, die er ihr damals mit auf den Weg gab: Eine Erzählung sei wie ein Lied. Die Autorin komponiert, schreibt die Noten, damit die Lesenden sie spielen können. Wie sie das tun, entscheiden sie selbst.

Gebärende Aliens

Während ihrer Residenz im Literaturhaus in Zürich macht Sayaka Murata Spaziergänge, steht in Kontakt mit Kolleg:innen – wie etwa mit ihrer Vorgängerin, der palästinensischen Schriftstellerin Adania Shibli – und schreibt an ihrem neuen Roman. Die Geschichte, so viel kann sie bereits sagen, handelt von einer Parallelwelt, in der ausserirdische Wesen für Frauen das Gebären übernehmen. «Alien» ist ein Wort, das häufig in Zusammenhang mit Muratas Prosa fällt, als fürchte man sich vor dem Eingeständnis, dass ihre Welten nur vordergründig ausserirdisch sind. Im Kern behandeln sie das Irdische, jene universalen Abgründe, die man häufig gerne durch Exotisierung wegerklären würde. Muratas Protagonistinnen sind Stachel in Systemen, ihr Aussenseitertum keine plumpe Geheimwaffe, sondern Ausdruck einer Komplexität, für die es in hyperfunktionalen Welten keinen Platz gibt. Sayaka Murata verschafft ihnen Raum, komponiert das Lied. Dann lässt sie sie frei.

Heute spürt Sayaka Murata die Geschichtengottheit noch immer. Wenn sie an einem Roman arbeitet, hat sie stets mehrere Notizbücher dabei (bis zu acht pro Roman), in die sie Figuren zeichnet, Entwürfe schreibt, Settings aufbaut. Dann setzt Murata ihre Protagonistinnen in etwas, was sie «Aquarium» nennt: einen imaginären Glaskasten, in dem ihre Figuren auf sich selbst gestellt sind. Sayaka Murata setzt sich davor, beobachtet und schreibt akribisch auf, was zwischen den Figuren passiert. Sie interveniert nur, wenn sich nichts bewegt. In gewissem Sinne sei es auch ein Sezieren, sagt sie. «Ich öffne mich mit einem Skalpell und schaue mir an, was alles in mir drin ist.» Oft komme dabei ein Schmerz auf über Vergangenes, Erinnerungen. Darüber, wie sie aufgewachsen sei. Aber auch Wärme und Kraft, als würde etwas in ihr auftauen. Murata führt nicht aus, wo sich die Geschichtengottheit heute befindet (Word-Processors gibts höchstens noch in Museen), aber eigentlich liegt die Antwort auf der Hand: in ihr selbst.

Buchcover von «Zeremonie des Lebens»
Sayaka Murata: «Zeremonie des Lebens». Aufbau Verlag. Berlin 2022. 286 Seiten. 34 Franken.

Sayaka Murata liest in Solothurn am Fr, 10. Mai 2024, um 11.30 Uhr.