Syrische Diaspora: Angekommen im Exil
Fast 30 000 Syrer:innen leben derzeit in der Schweiz – ihre Lebensrealitäten werden im politischen Diskurs weitgehend ignoriert. Einer von ihnen ist Jekdar Omar.

Die Albträume seien zurück, erzählt Jekdar Omar. Seit er die Nachrichten gesehen habe, die Bilder aus Damaskus, wo er aufwuchs, die jubelnden Leute in den Strassen und die Aufnahmen aus dem Innern der berüchtigten Gefängnisse, träume er wieder öfter davon, was er in diesen selbst erlebt habe. «So etwas kannst du nie mehr vergessen», sagt er.
Jekdar Omar kommt zu spät. Er fühlt sich etwas krank, aber das Treffen wollte er auf keinen Fall verpassen. Jetzt sitzt der 33-Jährige beim Zürcher Limmatplatz in einem Café unweit der Autonomen Schule, wo er 2015 nach seiner Ankunft in der Schweiz einen Sprachkurs besucht hat. Er ist herzlich, einer dieser Menschen, die einem schnell das Gefühl vermitteln, von ihnen gemocht zu werden, und er lacht viel – bevor er vom Tag zu erzählen beginnt, der alles verändert hat.
«Ich kann mich noch gut an den Polizisten erinnern, der 2013 meinen kleinen Supermarkt betreten hat», sagt Omar. «Er wollte mich ausfragen über eine kurdische Familie in der Nachbarschaft; ich wollte keine Aussage machen.» Omar ist selbst Kurde. Der Polizist habe ihm vorgeworfen, Präsident Baschar al-Assad beleidigt und zu «politischem Aufstand» aufgerufen zu haben, erzählt er. Als Nachbar:innen interveniert, sich zwischen ihn und den Polizisten gestellt hätten, sei der Beamte wieder abgezogen.
Am nächsten Tag wird der damals Zwanzigjährige von einem Dutzend Polizisten in seinem Laden verhaftet und ins Gefängnis gebracht. «Schon auf dem Weg dorthin haben sie mich verprügelt», erinnert er sich. Dann erzählt er von Folter, Demütigung, stundenlangen Verhören und fürchterlichen Haftbedingungen. Freigekommen sei er nach einigen Wochen schliesslich, weil sein Vater den Richter bestochen habe.
Neues Interesse
Noch heute, zwölf Jahre später, überkomme ihn manchmal das Gefühl, im Gefängnis zu sein. Nie mehr rauszukommen. Seit Assads Sturz kursieren in den Medien Bilder dieser Gefängnisse. Sie stossen auf Interesse. Bisweilen scheint es, als würde ein Grossteil der Schweizer Medienöffentlichkeit erst jetzt realisieren, wie brutal das syrische Regime war; dass dort nicht nur Krieg herrschte, sondern auch eine Diktatur.
Der europäische Blick erkannte in Syrien kaum je ein Land, sondern nur ein Kriegsgebiet, und in Syrer:innen nicht Menschen, sondern bloss Flüchtlinge. Ihre Ankunft wurde 2015 zum Ausgangspunkt einer zu Beginn noch hoffnungsvollen und dann zunehmend entmenschlichenden politischen Debatte um Zahlen und Asylverfahren.
Als er noch ein Kind gewesen sei, erzählt Jekdar Omar, habe er sich auf dem Computer, den er sich mit seinem alleinerziehenden Vater und seinen fünf Geschwistern teilte, Fotos ferner Länder angeschaut. «Mir war schon damals klar, dass ich irgendwann in der Schweiz leben will», sagt er heute. «Ich träumte von den Dörfern, den Bergen, der Demokratie.» Zwei Jahre nach seiner Verhaftung packt er seine Sachen und verlässt Syrien.
Vom Libanon aus fliegt er in die Türkei, in einem Lieferwagen mit 29 anderen Flüchtenden fährt er weiter nach Griechenland; von da aus über Mazedonien und Serbien nach Ungarn; Schlafen im Wald, auf der Strasse; immer weiter Richtung Schweiz. Schliesslich wird er Teil einer Gruppe von über 3000 Flüchtenden, die gemeinsam zur österreichischen Grenze laufen und damit international Schlagzeilen machen.
Immer fehlt etwas
Nach dem Fall des Assad-Regimes sistierte die Schweiz im Gleichschritt mit den meisten anderen europäischen Ländern alle Asylgesuche aus Syrien. Schrille Stimmen fordern bereits die Rückkehr der syrischen Geflüchteten. «Das verletzt mich», sagt Omar. Er hat heute eine B-Bewilligung, ist verheiratet, hat drei Kinder und arbeitet in einem Umzugsunternehmen. «Die Schweiz ist mein zweites Zuhause; meine Zukunft und die meiner Kinder liegt hier.» So wie die von Tausenden Syrer:innen – insgesamt leben fast 30 000 in der Schweiz. Ihre Lebensrealitäten kommen kaum im politischen Diskurs an.
Jekdar Omar ist selber mit Geflüchteten aufgewachsen, die einst in Syrien Zuflucht suchten, mit Irakern und Palästinenserinnen. «Es war selbstverständlich für uns, ihnen mit Respekt zu begegnen und sie soweit nötig zu unterstützen», sagt er. «Viel mehr wünsche auch ich mir nicht.» Sicherheit für seine Kinder, vielleicht irgendwann einen Schweizer Pass.
Derzeit, da er die Nachrichten aus Syrien intensiv verfolge, spüre er aber auch, dass ihm immer etwas fehle. «Was genau – das kann ich nicht sagen», sagt Omar. «Es geht mir gut, ich liebe meine Familie, bin in Sicherheit, trotzdem verfolgt mich dieses Gefühl.» Wenn Syrien irgendwann demokratisch und Kurdistan autonom und sicher sei, werde auch dieses Gefühl vielleicht einmal verschwinden.
«Wir haben uns alle gefreut, dass das Assad-Regime gestürzt wurde», sagt Jekdar Omar. «Aber ich traue dem neuen Machthaber Ahmed al-Scharaa nicht, das Land ist ausserdem völlig zerstört.» Und er hat Angst um Kurdistan: «Unser Problem war nie nur Assad, sondern ist bis heute vor allem Erdoğan.» Der türkische Präsident, mit dem die EU bekanntermassen kurze Zeit nach Omars Ankunft in der Schweiz einen Deal schloss, um syrische Geflüchtete, Leute wie Omar also, fernzuhalten.