Israel-Palästina: Ein überfälliger Schritt
Nach fünfzehn Monaten Krieg sollen in Gaza endlich die Waffen schweigen. Die schwierigsten Aufgaben beginnen aber nach dem Ende der Gewalt.
Das Abkommen, um das Israel und die palästinensische Hamas in den letzten Tagen gerungen haben und das bei Redaktionsschluss noch nicht besiegelt war, ist längst überfällig. Der dreistufige Plan, der ein Ende der Kämpfe, einen Austausch von Gefangenen sowie den schrittweisen Rückzug der israelischen Armee aus Gaza vorsieht, liegt – mit fast exakt den heutigen Eckpunkten – schon seit Monaten auf dem Tisch.
Ende Mai war der scheidende US-Präsident Joe Biden als Vermittler gescheitert: Israels Premier Benjamin Netanjahu hatte sich entschieden gegen jeden Deal gestellt, solange die Hamas nicht zerstört sei. Diese wiederum konnte sich präsentieren, als sei sie zu einem Abkommen bereit – ohne die Ernsthaftigkeit ihrer Absichten tatsächlich unter Beweis stellen zu müssen. Kritiker:innen in Israel beschuldigen Netanjahu, gegen den mehrere Korruptionsverfahren laufen, schon lange, sich aus Angst vor dem Ende seiner politischen Laufbahn zum Erfüllungsgehilfen der messianischen Siedler:innen in seiner Koalition zu machen.
Weiten Teilen der Siedler:innenbewegung liegt ebenso wenig am Frieden mit den Palästinenser:innen wie den Fanatikern der Hamas an einer Koexistenz mit Israel. Doch im Gegensatz zu Netanjahu, der seit Kriegsbeginn jede Debatte über eine Nachkriegsordnung in Gaza verhindert, haben sie einen Plan: die Vertreibung möglichst vieler Palästinenser:innen und den Ausbau jüdischer Siedlungen. Um diese Agenda voranzutreiben, dient der Krieg ihnen als Vehikel.
Dessen Kosten tragen andere: Seit Mai sind über 10 000 weitere Palästinenser:innen und mindestens acht israelische Geiseln getötet worden. Der militärische Gewinn ist indes selbst laut den israelischen Sicherheitsbehörden dürftig. Deren Spitzen sprechen sich seit Monaten für Verhandlungen aus.
Der Hamas als Guerilla scheint die israelische Armee trotz aller Übermacht ohnehin nicht beizukommen – im Gegenteil: Laut einer Recherche des «Wall Street Journal» rekrutiert die Miliz eine neue Generation von Kämpfern unter den teils mehrfach vertriebenen Bewohnern des Gazastreifens. An der «Zurückhaltung» Israels, wie manche Rechte behaupten, dürfte das kaum liegen: Seit Kriegsbeginn greift die Armee systematisch auch zivile Ziele wie Spitäler, Schulen und Moscheen sowie Geflüchtetenlager an.
Jetzt kommt die Hoffnung auf ein Abkommen ausgerechnet vom neuen US-Präsidenten Donald Trump. Dessen Unberechenbarkeit und vage Drohungen scheinen sowohl bei der Hamas als auch in Israel für Bewegung zu sorgen: bei der Terrorgruppe mutmasslich aus der Einsicht, dass es trotz der beispiellosen humanitären Katastrophe in Gaza noch schlimmer sein könnte. Und auf israelischer Seite will man sich offenbar mit Trump gut stellen.
Unabhängig von diesen Motiven lassen die Verhandlungen im katarischen Doha in Israel wie im Gazastreifen viele hoffen. «Zwei Millionen Palästinenser in Gaza warten auf einen Waffenstillstand, müde, hungrig, trauernd und hilflos. Gott, brich uns nicht das Herz», schrieb etwa die palästinensische Journalistin Bisan Owda auf Instagram. Im Zentrum Tel Avivs versammelten sich am Dienstagabend derweil Hunderte Protestierende. «Das ist keine Frage von Strategie oder Ideologie», sagte die ehemalige Hamas-Geisel Moran Stella Yanai, die im Rahmen des ersten Waffenstillstands im November 2023 freigekommen war. «Es geht um Menschlichkeit.»
Selbst wenn ein Waffenstillstand halten sollte (was bezweifelt werden darf): Angesichts der täglichen Schrecken des Kriegs kann vergessen gehen, dass die schwierigsten Aufgaben erst nach dem Ende der Gewalt beginnen. Wie sollen die Palästinenser:innen vergeben, dass Israel Gaza zum weltweit tödlichsten Ort für Kinder gemacht hat? Wie die israelische Gesellschaft, dass die Hamas sie mit ihrem Massaker am 7. Oktober 2023 und dem anschliessenden Spiel mit dem Leben der Geiseln an ihre dunkelsten Orte gedrängt und wie nie zuvor gegen sich selbst aufgebracht hat? Gegenüber dem Umgang mit dem unvorstellbaren Ausmass an Trauer, Wut und Hass nach fünfzehn Monaten Krieg erscheint das derzeitige Ringen um einen Waffenstillstand fast wie die kleinere Herausforderung.