Israels Krieg in Gaza: Alle Grenzen überschritten

Nr. 21 –

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Im Gazastreifen noch von roten Linien zu sprechen, hat seine Bedeutung verloren. Für die internationale Gemeinschaft war es keine rote Linie, als Israels Armee unter Verweis auf militärische Nutzung durch die Hamas mit der systematischen Zerstörung der Krankenhäuser in Gaza begann. Als täglich Bomben auf Zeltlager und ehemalige Schulen voller Geflüchteter fielen. Als Rettungssanitäter und humanitäre Helfer:innen gezielt angegriffen wurden. Zuletzt nicht einmal, als elf Wochen lang mit Ansage von Regierungsvertreter:innen mehr als zwei Millionen Menschen ausgehungert wurden, obwohl wenige Kilometer entfernt Tonnen von Nahrungsmitteln bereitstanden.

Dennoch darf jetzt die am Sonntag begonnene Offensive Israels mit dem Ziel, den Gazastreifen vollständig einzunehmen, nicht folgenlos bleiben. Ja, die radikalislamistische Hamas hat diesen Krieg am 7. Oktober 2023 mit einem Überfall auf Israel begonnen und hält weiter 58 lebende und tote Geiseln in Gefangenschaft. Ja, ihre Kämpfer verstecken sich als Guerillatruppe in Zivilkleidung unter der Bevölkerung, wenngleich die Armee bis heute kaum handfeste Beweise für die systematische Nutzung von Krankenhäusern und humanitären Einrichtungen vorgelegt hat. Doch sowieso ist die hohe Zahl von Zivilisten, Frauen und Kindern unter den mehr als 53 000 Getöteten in keiner Weise zu rechtfertigen.

Die Befreiung der Geiseln, mittlerweile ohnehin nur noch ein Ziel unter vielen, hätte Regierungschef Benjamin Netanjahu bereits vor knapp einem Jahr in Verhandlungen erreichen können. Damals hatte die Hamas einem mehrstufigen Vorschlag zur Freilassung aller Geiseln, einem Ende des Krieges und einem vollständigen Abzug der israelischen Armee zugestimmt. Israels Führung lehnte ab. Auch dass die palästinensische Terrorgruppe seitdem etwa die Abgabe ihrer politischen Macht angeboten hat, blieb ohne Wirkung.

Der israelischen Führung geht es längst um andere Ziele als die Befreiung der Geiseln und die Zerschlagung der Hamas. Netanjahu zufolge soll der Gazastreifen «vollständig erobert» werden. Die Bevölkerung des kleinen Küstenstreifens soll auf einem Bruchteil des Gebiets zusammengetrieben werden. Mehrfach hat er den Plan von US-Präsident Donald Trump, die palästinensische Bevölkerung in andere Länder zu vertreiben beziehungsweise deren «freiwillige Ausreise» zu ermöglichen, zur bevorzugten «Lösung» erklärt. Kabinettskollegen wie der rechtsextremistische Bezalel Smotrich gehen noch weiter und fordern offen die jüdische Wiederbesiedlung des Küstenstreifens, den Israel 2005 geräumt hat.

Längst ist bekannt, dass Netanjahu zahlreiche innenpolitische Gründe hat, den Krieg fortzusetzen: Er steckt bis zum Hals in Korruptionsprozessen, ist politisch abhängig von der Unterstützung messianischer Siedler:innen, die nicht von Friedensverträgen und Sicherheit, sondern von Grossisrael träumen, und tut alles in seiner Macht Stehende, um eine unabhängige Aufarbeitung des Versagens der Sicherheitsbehörden im Vorfeld des 7. Oktober abzuwenden. Dennoch hat diese Woche gezeigt, dass internationaler Druck wirkt: Es waren laut israelischen Medien massgeblich Drohungen aus der EU und Washington, die eine teilweise Aufhebung der Blockade Anfang der Woche möglich gemacht haben.

Allerdings reicht dies längst nicht aus, um die humanitäre Katastrophe zu beenden. Die europäischen Staaten sind weit mehr gefordert. Immerhin drohen Kanada, Frankreich und Grossbritannien Israel inzwischen mit «konkreten Aktionen, einschliesslich gezielter Sanktionen», sollte die militärische Offensive weitergehen. Handelsabkommen sollten ausgesetzt, Waffenlieferungen endlich gestoppt werden. Das wäre auch ein Zeichen an jene Israelis, die anders als der Grossteil von Netanjahus Wähler:innen diesen Krieg nicht mehr mittragen wollen: Seit Monaten ist die Mehrheit des Landes laut Umfragen zu einem Ende des Krieges bereit, wenn dafür die letzten Geiseln freikommen.