Joyeeta Gupta: «Hier fehlt die kritische Masse»

Nr. 5 –

Die indisch-niederländische Professorin forscht zur Umwelt- und Klimagerechtigkeit und arbeitet an einer globalen Verfassung. Sie ist ans Weltwirtschaftsforum in Davos gereist, um das Denken der Manager:innen zu ändern.

Menschen stehen für die Wasserausgabe an einem Tanklastwagen in der indischen Stadt Chennai an
«Es ist falsch, Wasser zu einer Ware zu machen. Die Staaten sollten Wasser zuteilen, nicht den Markt spielen lassen»: Wasserausgabe 2019 in der indischen Stadt Chennai. Foto: R. Parthibhan, Keystone

WOZ: Frau Gupta, wieso sind Sie ans Weltwirtschaftsforum nach Davos gereist?

Joyeeta Gupta: Ich bin vor zwei Jahren zum ersten Mal hierhergekommen, um über meine Arbeit als Sozialwissenschaftlerin in der Earth Commission zu sprechen: Es ging um die Festlegung sicherer und gerechter planetarer Belastungsgrenzen und was das für die Menschheit heissen würde. Vergangenes Jahr habe ich dazu referiert, weshalb man fossile Treibstoffe nicht weiter fördern, sondern in der Erde belassen soll – kein so populäres Thema hier (lacht). Und dieses Mal spreche ich an verschiedenen Veranstaltungen über den globalen Wassermangel. Ich komme Jahr um Jahr wieder, weil ich die Art, wie Unternehmensmanager:innen denken, verändern will.

WOZ: Und das funktioniert?

Joyeeta Gupta: Es ist nicht einfach. Viele hier glauben, man könne in die Länder des Südens gehen und dort eine Menge Profit machen. Das stört mich.

Umwelt und Gerechtigkeit

Die Juristin Joyeeta Gupta (60) ist Professorin für Umwelt und Entwicklung im Globalen Süden an der Universität Amsterdam. 2023 gewann sie mit dem Spinoza-Preis die höchste wissenschaftliche Auszeichnung der Niederlande.

Gupta ist Mitglied der Earth Commission, eines internationalen Zusammenschlusses von Wissenschaftler:innen zur Sicherung der globalen Gemeingüter. Seit vergangenem Jahr ist sie zudem Kovorsitzende eines zehnköpfigen Teams, das die Uno bei Fragen zu Wissenschaft, Technologie und Innovation bei ihren Nachhaltigkeitszielen berät.

 

Portraitfoto von Joyeeta Gupta

WOZ: Hier in Davos herrscht doch die Ansicht vor, Wirtschaftswachstum sei zentral. Löst das die Probleme?

Joyeeta Gupta: Nein. Viele Ressourcen sind beschränkt: Wasser, Energie, Mineralien. Auch wenn der starke Anstieg bei der Nutzung erneuerbarer Energien gut ist: Die Lösung ist nicht, noch mehr Energie zu verbrauchen, sondern möglichst sparsam damit umzugehen. Ausserdem wird hier viel über künstliche Intelligenz geredet. Aber KI löst weder das Armuts- noch das Ernährungsproblem. KI-Anwendungen setzen im Gegenteil riesige Datencenter mit hohem Energie- und Wasserbedarf voraus. Auch greifen die KI-Unternehmen auf Wissen zurück, das an Universitäten mit Steuergeldern für sie erarbeitet wurde. Für den Zugang zu ihrer Technologie müssen wir aber zahlen.

WOZ: Aber es heisst, die Länder des Südens bräuchten ebenfalls Wachstum …

Joyeeta Gupta: … die Weltbank sagt das auch.

WOZ: Es gibt aber nicht genug Energie und Wasser, um den aktuellen Lebensstandard der Menschheit aufrechtzuerhalten. Was ist die Lösung?

Joyeeta Gupta: Unsere Forschung zeigt: Überschreiten wir bestimmte Belastungsgrenzen, wird der Planet instabil – und in vielen Bereichen befinden wir uns bereits ausserhalb dieser sicheren Zonen. Denken Sie an die gravierenden Schäden, die die Erderhitzung bereits verursacht, während zugleich die grundlegenden Bedürfnisse vieler Menschen unerfüllt bleiben. Würden wir mit den heutigen Technologien versuchen, dieses Defizit zu beheben, würden wir die ökologischen Grenzen aber noch weiter überschreiten.

Joyeeta Gupta: Um einerseits die planetare Stabilität wiederherzustellen und andererseits die Grundbedürfnisse aller zu decken, muss zuerst sichergestellt werden, dass alle ein für ein würdevolles Leben notwendiges Mindestmass erhalten. Doch wie können wir zurückgehen? Wir müssen also einen Weg finden, den grossen ökologischen Fussabdruck der Reichen zu reduzieren. Wenn Regierungen reicher Staaten dazu nicht bereit sind, brauchen wir Mechanismen, durch die sie ihren Mehrverbrauch finanziell ausgleichen. Wir müssen das ganze Narrativ verändern.

WOZ: Wie genau?

Joyeeta Gupta: Wir müssen klar definieren, was ein Mensch mindestens zum Leben braucht und wie viel er maximal verbrauchen darf. Und dann geht es um die Frage: Was ist der sichere Raum dazwischen, der Bereich, in dem alle die Ressourcen der Erde nachhaltig nutzen können? In meiner Forschung arbeite ich an solchen Prinzipien und beschaffe die entsprechenden Daten. Gerechtigkeit soll also auf wissenschaftlichen Grundlagen beruhen. Und sie soll auf klaren Regeln fussen. Es ist doch verrückt: Als Wissenschaftlerin muss ich für alle meine Projekte belegen, dass sie bestimmten ethischen Normen entsprechen. Für Unternehmen gilt das hingegen nicht.

WOZ: Und das lässt sich am Wef diskutieren?

Joyeeta Gupta: Wissenschaftler:innen haben hier wenig Einfluss, der Raum für Kritik ist sehr beschränkt. Auch NGOs oder Vertreter:innen kleiner Unternehmen gibt es hier wenige. Ich will ja nicht das ganze System zerstören, aber wir benötigen mehr Regulierung, um den Raum für wirtschaftlichen Aktivismus zu reduzieren. Profitable Geschäfte zu machen und dabei der Gesellschaft keine Probleme aufzuhalsen, ist für mich kein Widerspruch.

WOZ: Hier am Wef scheint ein ziemliches Kurzzeitdenken zu herrschen, es geht um die Profite der nächsten paar Jahre.

Joyeeta Gupta: Das Problem ist meist die oberste Führung, die nur wenige Jahre in einem Unternehmen bleibt und hohe Löhne und Boni kassiert. Diese Manager:innen haben keinen Anreiz für langfristiges Denken. Es braucht deshalb auch ein Malus-System. Im Grunde müssten die CEOs aller Ölkonzerne seit den fünfziger Jahren zur Rechenschaft gezogen werden. Sie wussten, dass fossile Brennstoffe die Klimakrise antreiben, und hätten die Macht gehabt, dagegen vorzugehen.

WOZ: Regulierungen sind in den meisten Staaten unbeliebt …

Joyeeta Gupta: Wir haben ein Demokratieproblem. Aus demokratischer Sicht lässt sich argumentieren, dass es Menschen mit einem gewissen Wohlstand braucht, die die Zeit haben, sich aktiv an der Demokratie zu beteiligen. Gleichzeitig darf der Wohlstand Einzelner jedoch nicht so gross sein, dass er dazu genutzt werden kann, die Demokratie zu manipulieren, wie wir das derzeit in den USA gut sehen. Dazu brauchen wir ein anderes Steuersystem.

WOZ: Es geht also primär um mehr Gerechtigkeit?

Joyeeta Gupta: Ja, aber auch darum, stärkere Staaten zu haben. Besonders in den Ländern des Globalen Südens sind die Staaten oft zu schwach, um ihre Aufgaben effektiv zu erfüllen. Sie müssen ihre Steuereinnahmen erhöhen. Dafür braucht es eine globale Bewegung hin zu einem gerechten Steuersystem, in dem die Reichen und die Konzerne stärker besteuert werden. Es geht aber auch darum, den Konsum zu begrenzen. Wenn wir von den planetaren Grenzen ausgehen, so müssen wir uns fragen, wie viel jemand maximal ausgeben darf. Wenn wir ein Limit festlegen würden, wäre es egal, wie viel jemand besitzt.

WOZ: Das sind wissenschaftliche Gedankenspiele, die aber nicht wirklich in die politische Debatte eingeflossen sind.

Joyeeta Gupta: Nein. Steuergerechtigkeit ist zu einem globalen Thema geworden. In der EU wird heftig darüber debattiert, NGOs machen sich dafür stark. Man muss Unternehmen, die keine oder wenig Steuern zahlen, an den Pranger stellen. Sie sollen sich schämen müssen. Es gilt zu fragen: Was leisten diese Unternehmen für die Welt, und welchen ökologischen Fussabdruck hinterlassen sie? Globale Steuergerechtigkeit stärkt auch die Demokratie. In armen Ländern fehlen Mechanismen, die den Staat überwachen, es fehlt an Rechenschaftspflicht.

WOZ: Sie arbeiten viel zum Thema Wasser. Hier am Wef wird propagiert, Wasser brauche einen Preis, sonst werde es verschwendet. Richtig?

Joyeeta Gupta: Es ist falsch, Wasser zu einer Ware zu machen, zu einem Vermögenswert. Wir sehen schon heute, wie Reiche Wasserspeicher aufkaufen. Sie kaufen sie als eine Art Versicherung für die Zukunft. Aber der private Wassermarkt funktioniert nicht. Der australische Wassermarkt, der angeblich so toll sein soll, basiert auf dem Diebstahl von Wasserressourcen der Ureinwohner:innen. Ein Wassermarkt ist auch problematisch, weil Leute anfangen, Wasser zu horten und auf Preissteigerungen zu warten. Die Staaten sollten Wasser zuteilen, nicht den Markt spielen lassen, denn schon heute herrscht in vielen Ländern Wassermangel. Und die Industrie muss dazu gezwungen werden, Wasser zu recyceln.

WOZ: Sie beschäftigen sich auch mit der Ausarbeitung einer globalen Verfassung. Die Idee ist, Rechte und Pflichten aller im Kontext des Anthropozäns festzulegen, also unserer Epoche, in der die Menschheit zu einem wichtigen Einflussfaktor etwa auf biologische und atmosphärische Prozesse geworden ist. Wie kommt man zu so einem Regelwerk?

Joyeeta Gupta: Die Frage ist: Wie schaffen wir eine Gesellschaft, in der Wohlstand, Gerechtigkeit und ökologisches Gleichgewicht herrschen? Wir müssen uns fragen, ob wir jede Technologie uneingeschränkt zulassen wollen oder ob wir sagen, dass wir bestimmte Technologien stoppen müssen, um zukünftige Probleme zu vermeiden.

Joyeeta Gupta: Meine grösste Befürchtung ist, dass Technologie die Umwelt ruiniert. Es braucht staatliche Kontrolle. Wir möchten so eine Verfassung aber nicht selber schreiben, sie soll vielmehr von Hunderten oder Tausenden Autor:innen aus der ganzen Welt geschrieben werden. Wir laden alle Menschen, die älter als zehn sind, ein, uns einen von ihnen verfassten Essay von tausend Zeichen dazu zu schicken, egal in welcher Sprache.

WOZ: Und dann?

Joyeeta Gupta: Ich hoffe auf viele neue Ideen. Es geht um eine Wunschverfassung. Wir werden gegenüber Politiker:innen keine Konzessionen machen. Ich berate ja auch die Uno. Ich weiss, dass dort wenig Interesse an so etwas besteht. Aber man kann damit neue Ideen in die Diskussion einbringen.

WOZ: Sie wirken sehr optimistisch. Wenn ich den gegenwärtigen CO₂-Ausstoss ansehe, den Rückgang der Biodiversität …

Joyeeta Gupta: … die globale Verschuldung …

WOZ: … all das …

Joyeeta Gupta: Ich erzähle Ihnen dazu eine Geschichte: Als ich 1997 meine Doktorarbeit beendete, war ich wegen des Klimawandels bedrückt, sah keine Lösung. Bei einem Essen sprach ich mit einem Professor aus Bangladesch. Er sagte mir, als er aufgewachsen sei, habe er gedacht, die Engländer würden sein Land niemals verlassen. Doch eines Morgens waren sie plötzlich weg. Die Mauer in Deutschland fiel auch über Nacht. Wir bräuchten in Europa nur das Geld von 80 Milliardär:innen, und die Klimawende wäre geschafft. Und es gibt über 600 Milliardär:innen in Europa.

WOZ: Es braucht Menschen, die dafür kämpfen. Die Regierungen werden es kaum tun.

Joyeeta Gupta: Wir müssen auch die kleinen Möglichkeiten finden, das anzusprechen. Hier am Wef etwa fehlt die kritische Masse. Es bräuchte in jedem Raum fünf Leute, die aufstehen und sagen: Ihr habt unrecht. Man ignoriert uns. Auch in der Uno. Aber ich tue, was möglich ist.