Literatur: Die verbindende Wirkung des Heroins

Nr. 43 –

In seinem Romandebüt «Der Junge, der das Universum verschlang» erzählt der australische Schriftsteller Trent Dalton eine Coming-of-Age-Geschichte der etwas anderen Art.

«Manches im Buch ist so, wie es war, und manches so, wie ich es mir gewünscht hätte»: Schriftsteller Trent Dalton. Foto: Russell Shakespeare

Es ist ein recht spezieller Babysitter, den der zwölfjährige Eli da hat: Arthur «Slim» Halliday ist der berühmteste Ausbrecherkönig Australiens. Verurteilt unter anderem für einen Mord an einem Taxifahrer (den er nie gestand), sass der «Houdini von Boggo Road» jahrzehntelang im Boggo-Road-Gefängnis in Brisbane ein – aus dem berüchtigten Knast gelang ihm als einzigem Insassen gleich zweimal die Flucht. Nun, im hohen Alter und auf freiem Fuss, schaut er nach Eli und dessen dreizehnjährigem Bruder August.

Und so bringt er dem kleinen Eli bei, Auto zu fahren und die Zeit zu manipulieren («Schnapp sie dir, bevor sie dich schnappt»); er ermahnt ihn, stets auf jedes noch so kleine Detail zu achten, und motiviert ihn, Briefe an Gefängnisinsassen zu schreiben. Währenddessen sind Elis Mutter und Stiefvater angeblich im Kino, wie Slim behauptet. Allerdings wissen Eli und August ganz genau, dass die beiden nicht vor der grossen Leinwand sitzen – sondern gerade Heroin verticken.

Es ist ein trister Vorort in Brisbane während der achtziger Jahre, in dem der Roman «Der Junge, der das Universum verschlang» des australischen Journalisten und Autors Trent Dalton spielt. Hier wächst Eli zwischen Gewalt und Liebe, Blut und Erbrochenem, Verwahrlosung und grossen Träumen, Alkoholexzessen und Drogendeals auf. Dalton dekonstruiert in seinem packenden Roman das noch immer verbreitete Bild von Australien als Traumdestination aller Austauschstudent:innen, Backpacker und Surferinnen.

Es kommt sicher gut!

Er erzählt die Geschichte aus der Sicht Elis, der zu Beginn des Buchs zwölf und am Ende siebzehn ist und in diesen fünf Jahren nicht nur seinen Zeigefinger auf recht martialische Weise verliert, sondern auch sonst mehr erlebt als andere während ihres ganzen Lebens. Dies alles liest sich locker und ist trotz des Elends nie deprimierend, was an Elis mitreissend plaudernder, aber stets präzise beschreibender Sprache liegt, die ihm Dalton verleiht. Der Junge erzählt auch die drastischsten Szenen mit einer völligen Selbstverständlichkeit; er beklagt sich nie und bleibt immer zuversichtlich, dass schon alles gut kommen werde.

Man muss ihn also einfach mögen, diesen aufrechten Teenager, der an Maik Klingenberg, den Erzähler in Wolfgang Herrndorfs wunderbarem Buch «Tschick», erinnert. Wie Herrndorfs Bestseller ist auch Daltons «Der Junge, der das Universum verschlang» eine Coming-of-Age-Story, ein Abenteuer, eine Liebesgeschichte, aber auch ein Heimatroman der etwas anderen Art.

«Dein Ende ist ein toter blauer Zaunkönig» – mit diesem rätselhaften Satz beginnt das Buch. Elis Bruder August schreibt ihn schwungvoll in die Luft. Der Dreizehnjährige spricht nicht mehr, seit er sechs Jahre alt war. Damals verliess die Mutter den Vater mit den beiden Söhnen und ging in ein Frauenhaus. Mittlerweile leben die drei mit Lyle zusammen, einem Exjunkie und Kleindealer, geboren in einem US-amerikanischen Displaced-Persons-Lager auf deutschem Boden nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. England wollte die Familie nicht, Australien nahm sie aber auf – was Lyle nie vergessen hat, «weshalb er selbst in den wüsten Jahren seiner hoffnungsvoll verschwendeten Jugend nie Dinge abfackelte oder zu Klump schlug, auf denen Made in Australia stand».

Eli liebt Lyle fast so sehr wie seinen Bruder August, auch wenn er weiss: «(…) das Schlimmste, das Lyle je getan hat, war, meine Mum auf Droge zu bringen. Ich schätze, das Beste, was er je getan hat, war wahrscheinlich, sie wieder davon runterzuholen. Aber wir beide wissen, dass er mit dem Zweiten das Erste nie wiedergutmachen konnte.»

Während August also nicht spricht, sondern Sätze in die Luft schreibt, die seine Familie entziffern kann, plappert Eli dafür umso mehr. Auch als Lyle die Brüder während der Sommerferien auf seine Heroinverkaufsrunden mitnimmt, quatscht Eli unverfroren mit allen Käuferinnen und Zwischenhändlern, beobachtet jede Kleinigkeit in deren Zuhause. Eli geniesst diese Touren: «Nichts verbindet eine Stadt mehr als südostasiatisches Heroin. In diesem grossartigen Monat, in dem das Schwimmbad in Jindalee wegen Renovierung geschlossen hat, düsen Lyle, Teddy, August und ich samstags quer durch Brisbane, pendeln zwischen jeder ethnischen Minderheit, jeder Gang, jeder obskuren Subkultur, die meine weitläufige und brütend heisse Heimatstadt an ihrem verschwitzten Busen nährt.»

Doch Lyle macht heimlich Nebengeschäfte und wird deswegen schliesslich verpfiffen, was fatale Folgen hat: Die Familie bekommt Besuch von Tytus Brotz, der als Besitzer einer Firma zur Herstellung von künstlichen Körperteilen auch «der Herr der Gliedmassen» genannt wird und als grosser Wohltäter von Brisbane gilt. Nach diesem Besuch ist nichts mehr, wie es war: Lyle ist weg, Elis Zeigefinger auch. Die Mutter landet im Gefängnis, und August spricht zum ersten Mal seit Jahren einen Satz. Wieder: «Dein Ende ist ein blauer Zaunkönig.» Spätestens jetzt wird das Buch zu einem unglaublich spannenden Krimi, der immer wieder überraschende Wendungen nimmt.

Denn da ist noch dieser geheime Raum hinter dem Zimmer der Eltern, in dem ein rotes Telefon steht. Ein Mann spricht daraus zu Eli – wer das ist, weiss weder der Junge noch die Leserin, dafür weiss der mysteriöse Mann alles über Eli. Er ist es auch, der ihm in den Kopf setzt, sich an Weihnachten heimlich zur Mutter ins Gefängnis schmuggeln zu lassen. Zu Hilfe kommen ihm dabei nicht nur Slims Kontakte, sondern auch dessen Erzählungen. Und schliesslich ist es das geschriebene Wort, das den Jungen rettet: Seine Briefe an einen Gefängnisinsassen bewahren die Familie indirekt vor dem Tod. Das Geheimnis um den «Herrn der Gliedmassen» und dessen obskure Firma kommt dank Elis Praktikantenjob bei einer Zeitung ans Licht, und sogar Augusts seltsamer Satz wird Wirklichkeit.

Inspiriert von der eigenen Kindheit

In Australien ist «Der Junge, der das Universum verschlang» bereits vor zwei Jahren erschienen und wurde dort zum Bestseller. Soeben feierte in Brisbane eine Theaterinszenierung Premiere; zudem wird das Buch fürs Fernsehen verfilmt. Inspiriert ist die Geschichte von Daltons eigener Kindheit – was dem Buch «street credibility» verleiht und sich auch gut vermarkten lässt. In einem Artikel in «The Australian» schreibt Dalton, seine Mutter meine, dass in seiner Story das Verhältnis von wahr und erfunden etwa «fifty-fifty» sei. Dalton wiederum sagt: «Vieles im Buch ist echt, und vieles davon ist Blödsinn. Manches ist so, wie es war, und manches so, wie ich es mir gewünscht hätte.»

Wahr ist: Der berühmte Ausbrecherkönig Slim war tatsächlich mal Daltons Babysitter. Wahr ist auch, dass Daltons Stiefvater, der zu den Menschen zählt, die er am meisten liebte, eines Tages aus seinem Leben verschwand, als ihn «ein besonders problematischer Teil seiner Welt einholte». Und tatsächlich gab es auch im Haus von Daltons Kindheit ein rotes Telefon in einem geheimen Raum hinter dem Kleiderschrank. Zu diesem habe ihn eines Tages einer seiner Brüder geführt, erzählt Dalton in einem Verlagsvideo. In dem Moment, in dem sein Bruder in diesem geheimen Raum verschwunden sei, sei sein Verstand geradezu explodiert – und er sei zum Schriftsteller geworden: «Meine Fantasie wurde geboren: Ich begann zu realisieren, dass die Welt nicht so ist, wie sie scheint.»

Trent Dalton: Der Junge, der das Universum verschlang. Roman. Aus dem australischen Englisch von Alexander Weber. Harper Collins Verlag. Hamburg 2021. 512 Seiten. 35 Franken