Tanja Miljanović: «Meine Eltern wollten den Krieg aus unserem Leben halten»
Als Kind flüchtete Tanja Miljanović aus Bosnien-Herzegowina. Erst als Erwachsene traut sie sich zurückzublicken – mit einem Roman.
Eigentlich wollte sie ein Buch über künstliche Intelligenz schreiben. Stattdessen stellte sich Tanja Miljanović ihrer Vergangenheit und schrieb über den Bosnienkrieg. «Wenn wir wieder Menschen sind» ist ein autofiktionaler Roman, die Protagonistin ein Mädchen, das aus der ostbosnischen Stadt Tuzla flüchten muss.
Das Mädchen heisst Tanja Miljanović, wie die Autorin selbst. «Heisst die Figur wie ich, ist die Betroffenheit beim Lesen eine andere», sagt die 41-Jährige an einem Morgen in ihrer Berner Wohnung, wo sie mit ihrem Mann und den beiden Töchtern lebt. Was am Buch real, was Fiktion ist, verrät sie nicht. Im Gespräch aber findet man viele Züge ihrer Hauptfigur wieder.
Die echte Tanja Miljanović wurde auch in Tuzla geboren, im ehemaligen Jugoslawien. Bis sie eine junge Frau ist, ist ihr nicht richtig klar, was in den neunziger Jahren in ihrer alten Heimat geschah und warum sie in die Schweiz kam. Dann unternimmt sie eine Weltreise und besucht Verwandte in Australien. Bei einem Abendessen in Sydney erzählt man ihr von den Barrikaden in ihrer Heimatstadt im Mai 1992. Erst da versteht sie: Die Fahrt damals in einem überfüllten Auto nach Belgrad war keine spontane Reise, die vermeintlichen Freudensalven von Hochzeiten waren Gefechte, Stansstad kein Ausflug zum Vater, der in der Schweiz arbeitete, sondern die Endstation einer Flucht.
Ein harziger Anfang
Es sollte weitere fünfzehn Jahre dauern, bis sie diese Geschichte öffentlich teilt. Bis dahin kennt man Tanja Miljanović vor allem als Politikerin. Seit 2021 ist sie in der Stadt Bern Kopräsidentin der Grünen Freien Liste, einer lokalen Abspaltung der Grünen Partei, und sitzt im Parlament. Ihre Kernthemen: nachhaltige und verantwortungsbewusste Wirtschaft, sozialer Ausgleich, Klimadesaster. Sie politisiert gegen die Ausbeutung von Menschen und Ressourcen, für nachhaltige Mobilität und umweltfreundliche Wärmeversorgung.

Als Kind wollte Miljanović vieles werden: Raumfahrerin, Physikerin, Chefchirurgin. Ihre Vorbilder waren jugoslawische Frauen. «Ich dachte, ich könnte die Welt erobern», sagt sie. Es war eine schöne, unbekümmerte Kindheit – sowohl im damaligen Jugoslawien als auch später in der Schweiz.
«Es war schlimm», sagt sie über den Moment, als sich dieses Bild in Sydney zerschlug. Damals habe sie entschieden, osteuropäische Geschichte zu studieren. Sie wollte verstehen, wie sich das Land der «Brüderlichkeit und Einheit» in Gewalt und Völkermord auflösen konnte. Erst mit dem Roman aber habe sie sich in den Krieg «reingetraut». Sie begann nochmals zu recherchieren. Und mit ihrer Familie zu sprechen. «Am Anfang war es harzig.» Die Eltern hätten all die Jahre versucht, den Krieg aus dem Leben ihrer Kinder herauszuhalten. Sie erzählten wenig, arbeiteten viel. Miljanović sagt, dass sie auch in der Schweiz behütet aufgewachsen sei. Gerade deshalb spüre sie nun eine Verantwortung, zu erzählen.
Als Täter:innen stigmatisiert
Die Tochter sagte ihren Eltern von Beginn weg, dass sie im Buch verschiedene «Seiten» beleuchten werde. Dazu muss man wissen: Die Miljanovićs gelten in der gängigen Sichtweise als ethnische Serben. Im Krieg von 1992 bis 1995 hatten bosnisch-serbische und serbische Nationalisten zum Ziel, die nichtserbische Bevölkerung Bosnien-Herzegowinas aus Teilen des damals bereits unabhängigen Landes zu vertreiben oder zu töten, verübten Genozid und Massenvergewaltigungen. Die meisten zivilen Opfer des Krieges sind Nichtserben.
Über all das schreibt Miljanović in ihrem Buch, schonungslos und geschickt. Sie baut die gründlich recherchierten Narrative der verschiedenen politischen Gruppierungen und ethnischen Gemeinschaften in Dialoge unter Erwachsenen ein. Diese diskutieren und streiten, das Mädchen Tanja hört zu. Für die sexualisierte Gewalt findet Miljanović eine andere Sprache: Sie schreibt gewagt aus der Ich-Perspektive einer bosniakischen (muslimischen) Frau, mit schlichten Worten, geprägt von Wiederholungen. Sätze, die durch Mark und Bein fahren. «Die Tür öffnet sich. Wir gehen raus. Die Tür schliesst sich. […] Die Frauen werden immer leiser, Worte werden kaum noch gesprochen. Wozu auch? Die Tür schliesst sich. […] Sie mögen mein Töchterchen mehr als mich. […] Ich möchte sterben. Die Tür schliesst sich.»
«Vergangenheitsbewältigung beginnt immer mit einem selbst», findet Miljanović. Auch wenn sie den Schrecken der serbischen Zivilbevölkerung in ihrem Buch greifbar mache, hätte sie sich nicht nur darauf beschränken wollen. Das Leid anderer auszuklammern, führe nicht zu Versöhnung.
Sie weiss, was sie mit dieser Haltung riskiert. Im Gespräch versucht sie, die Angst vor dem Zorn serbischer Nationalist:innen wegzulachen. Gleichzeitig erinnert sie sich an wissenschaftliche Vorträge an der Uni Basel, in denen es entsprechend aufgebrachte Voten gab. An ihren eigenen Lesungen wurde sie bereits angefeindet. «Das Erlebte scheint noch immer roh, einige fühlen sich angegriffen.»
Tatsächlich wurden viele Serb:innen, die in die Schweiz migrierten oder flüchteten, pauschal als «Täter:innen» stigmatisiert. Mit ihnen die Miljanovićs. Für die Eltern, überzeugte Jugoslaw:innen, war das besonders schwer. Auch Tanja Miljanovićs frühe Prägungen kollidierten in der Schweiz mit Stereotypen, nicht mit rassistischen, sondern sexistischen. Als sie ihrem Mathematiklehrer eröffnete, dass sie Architektur studieren wolle, habe er sie ausgelacht. Und der Physiklehrer habe die Mädchen der Klasse regelmässig blossgestellt. In Jugoslawien wäre das nicht passiert, ist sie überzeugt.
Sie machte trotzdem ihren Weg, nicht als Raumfahrerin oder Architektin, sondern als Unternehmerin und Politikerin. Als sie im Kulturzentrum Progr an ihrem Buch schreibt, begegnet sie auf den Gängen Jugendlichen des Klimastreiks. Die Angst der jungen Leute um die Zukunft rüttelt sie auf. Sie lässt sich überzeugen, sich für die Grüne Freie Liste als «Listenfüllerin» zur Verfügung zu stellen und wird prompt gewählt.
Der Krieg geht nie vorbei
Aber auch andere frühe Prägungen treiben sie an. Spaltende Rhetorik rechter Parteien macht ihr Angst. Sie glaubt, dass auch die Schweiz in Zukunft Gewaltausbrüche erleben könnte, Verteilkämpfe aufgrund der Klimakatastrophe und immer knapper werdender Ressourcen. Krieg verhindern – für Miljanović mehr als eine Floskel.
Was die Gewalt der neunziger Jahre bis heute in Bosnien anrichtet, sieht sie, wenn sie ihre Verwandten besucht. «Ich habe gemischte Gefühle, bin nostalgisch, aufgewühlt, wütend.» Erinnerungen an eine schöne Kindheit kontrastieren mit halb zerfallenen Häusern, politischem Stillstand und wirtschaftlich prekären Verhältnissen, die die Leute zermürben und ins Ausland treiben. «Der lange Arm des Krieges ist unglaublich zerstörerisch.»
Auch darüber schreibt sie in ihrem Buch – wie der Krieg für viele nie vorbei ist, sondern immer Teil ihres Lebens sein wird. Einige Leser:innen schreiben Miljanović, dass sie dank des Romans erstmals in ihrer eigenen Familie über das Erlebte von damals sprechen konnten. «Das wiederum gibt mir Mut, mich meiner Vergangenheit und den Diskussionen weiter zu stellen.»
Tanja Miljanović: «Wenn wir wieder Menschen sind». Roman. Zytglogge Verlag. Bern 2024. 348 Seiten.